Staustufe (German Edition)
nämlich behauptet, ihr Nachname sei Hilton. Na ja, was soll ich sagen. Da hat sie sich wohl einen Promi-Namen gegriffen, um ihren richtigen nicht zu verraten. Ich schätze mal, es ist, weil sie nicht will, dass ihre Eltern sie irgendwann finden.»
Jetzt wurde es interessant.
«Oder nicht wollte», verbesserte sich der hellblonde Daniel. «Darf ich denn … muss ich denn ihr Plakat so verstehen, dass Jackie nicht mehr lebt?»
«Ja, da haben Sie recht.»
«Scheiße», murmelte Daniel, «Scheiße.» Er stützte die Ellbogen auf den Tisch und nahm das Gesicht in beide Hände, rieb sich Augen und Stirn.
«Mensch, Danny», maulte der kleine Wuttke, «wenn du jetzt anfängst, dir Vorwürfe zu machen, bin ich aber sauer.»
«Du verstehst das nicht», murmelte Daniel. Dann nahm er die Hände aus dem Gesicht und sah Heinrich direkt an. Seine Augen waren rot um die blassblaue Iris. «Sie ist das Mädchen, das im Main gefunden wurde, stimmt’s?»
Heinrich nickte. Die Hessenschau hatte von dem Fund berichtet. Daniel sprang auf, drehte im Raum eine Runde. Als er sich wieder setzte, hatte er Tränen in den Augen. Heinrich beobachtete das mit Befremden, war aber zugleich gerührt. Hier war nun endlich jemand, der um das Mädchen trauerte. Der nicht froh war, es aus der Welt zu wissen. Er räusperte sich.
«Ich habe leider nicht so viel Zeit. Wollen Sie mir jetzt vielleicht erzählen, in welcher Beziehung Sie zu Jacqueline standen, was Sie über sie wissen und wann und wo Sie sie zuletzt gesehen haben?» Er stellte ein Diktiergerät auf den Tisch. «Ist das okay?», fragte er. «Das macht es einfacher fürs Protokoll.»
«Ist schon okay», sagte Daniel und schniefte.
«Fangen Sie doch kurz mit Ihrem vollständigen Namen und Ihren Personalien an», empfahl Heinrich.
«Bin ich jetzt verdächtig?»
Heinrich lächelte. «Nicht im Geringsten. Verdächtige haben wir in diesem Fall auch ohne Sie schon genug.»
Daniel Depuhl hatte das Mainmädchen, wie zu erwarten, am Südbahnhof kennengelernt. Sie hatte Andeutungen von sexuellem und anderem Missbrauch zu Hause gemacht, sei von dort fortgelaufen. Er habe ihr helfen wollen. Zunächst hatte «Jacqueline» dann im Esszimmer der WG oder in einem jeweils leeren Schlafzimmer übernachtet. Zwei Mitbewohner waren Flugbegleiter und viele Nächte im Monat nicht zu Hause. Diese Situation hatte jedoch zu Konflikten geführt. Alle außer Daniel fanden «Jacqueline» nämlich schwer erträglich. Am Ende hatte Daniel für sie eine eigene Wohnung gemietet, damit sie nicht auf der Straße schlafen musste. Diese Wohnung ganz in der Nähe hatte er monatelang gehalten. «Und er ist die ganze Zeit über praktisch nicht arbeiten gegangen», ergänzte Wuttke. «Madame brauchte ihn ja dauernd, und wenn er mal sagte, heute habe ich keine Zeit, dann drohte sie ihm mit Selbstmord.»
«Was hat denn Ihr Arbeitgeber dazu gesagt?», fragte Heinrich unwillkürlich den unglücklichen Daniel Depuhl.
Wuttke antwortete statt seiner.
«Also, wenn nicht der Bruder von meinem Freund Oliver der Vize-Deutschlandchef von United wäre, dann hätte Danny den Job jetzt nicht mehr», erklärte er triumphierend.
United war United Airlines.
Als sein Job auf dem Spiel stand, erzählte Depuhl, sei ihm endlich klargeworden, dass es so nicht weitergehen konnte. Er habe Beratung bei einem Psychologen und beim Jugendamt gesucht. Eines Tages habe er eine Sozialarbeiterin zu dem Mädchen mitgebracht. Er habe dann die Wohnung gekündigt, um «Jackie» unter Druck zu setzen, das Angebot einer betreuten Wohngruppe anzunehmen.
« And her Ladyship was not amused », warf der kleine Wuttke an dieser Stelle des Berichts ein. «Als er nicht mehr spurte, war der geliebte Danny ihr plötzlich keinen Pfifferling mehr wert.»
Daniel Depuhl kramte inzwischen seinen Terminkalender hervor und gab an, das Mainmädchen zuletzt am fünfzehnten September gesehen zu haben. Er hatte wieder Tränen in den Augen.
«Jetzt muss ich Sie aber noch was fragen», sagte Heinrich. «Sie sagen, es war nichts Sexuelles. Aber was hat Sie denn dazu getrieben, sich derart intensiv um dieses Mädchen zu kümmern? Oder sind Sie nicht doch zumindest bisexuell?»
«Quatsch», sagte Depuhl, «absolut nicht. Aber ich habe sie wirklich geliebt. Es ist schwer zu erklären. Sie war so – bezaubernd. Sie hat einem das Gefühl gegeben, als ob man sich glücklich schätzen kann, dass man so privilegiert ist, sie zu kennen und ihr helfen zu dürfen. Sie war einfach
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