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Staustufe (German Edition)

Staustufe (German Edition)

Titel: Staustufe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Reichenbach
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sein Gesicht in den Händen.

    Letztes Jahr war der Junge öfter bei ihnen gewesen, vielmehr mit Sara in Saras Zimmer. Angeblich hatten sie an einem Projekt für die Schule gearbeitet. Carola und er hatten den Eindruck gewonnen, dass Lenny und Sara auf etwas schüchterne, kindliche Weise liiert seien.
    Winter hätte den Jungen gestern erkennen müssen. Aber er hatte den Toten nie richtig angesehen. Morgens am Main hatten die Sanitäter die Leiche noch in Beschlag gehabt, auf dem Gesicht saß die Beatmungsmaske. Als die Fotos kamen, war er längst mit anderen Dingen beschäftigt gewesen. Außerdem kannte Winter Lenny eigentlich besser vom Namen als vom Sehen. Zu Hause war er ihm zwar im letzten Jahr mehrfach über den Weg gelaufen, aber der Junge war so schüchtern, dass es über ein gemurmeltes «Tag» nie hinausging. Und dann war er immer gleich wieder in Saras Zimmer verschwunden.
    Winter wollte am liebsten gar nicht wissen, was da passiert war.

    Vorgestern, vor den beiden Nachmittagsstunden Musik, hatte Sara in der Schule ziemlich angegeben; sich interessant gemacht mit der Geschichte von dieser Jessie, die von zu Hause weggelaufen war, bei Selim Okyay gewohnt hatte und sich die Arme aufritzte. Und die nun vor der Griesheimer Staustufe tot im Main gefunden worden war. Sara verkündete, nach ihrer Meinung habe das Mädchen sich da selbst reingestürzt. Klar, die Bullen waren der Ansicht, jemand hätte sie umgebracht. Nach Saras Ansicht war es aber Selbstmord, aus Liebeskummer. Selim hatte dem Mädchen irgendwann den Laufpass gegeben, weil die echt irgendwie nicht ganz dicht war – und weil Selim außerdem jemand anderen liebte. (Behauptete Sara. In Wirklichkeit wusste sie über Selims Gefühlsleben nichts.) Und jetzt suche eben die Polizei das Mädchen. Sie, Sara, hätten sie heute Mittag an der Konsti auch befragt. Sie würde irgendwann noch mal länger aussagen müssen, was aber blöd war, weil Selim nicht wollte, dass die Bullerei wusste, dass er mit der Jessie was zu tun hatte. Weil eben Selim der Manager vom Hellhouse war, und da hatte man mit den Bullen schon genug Probleme, Razzien und so, Drogenverkauf und dergleichen.
    Das war es, was Sara erzählte. Und es war schon eine ziemlich aufregende Geschichte. Was anderes als dieses ewige Gerede über Hausaufgaben und Schulkonzert und Erderwärmung, das von diesen ganzen braven Kids in der Klasse kam. Wie zum Beispiel von Lenny Petzke.
    «Du redest in letzter Zeit ziemlich viel von diesem Selim», sagte Lenny, nachdem sie fertig erzählt hatte.
    «Kann sein», antwortete sie.
    Während der folgenden Musikstunden starrte Lenny sie die ganze Zeit an wie ein unglückliches Reh. Das kannte Sara schon. Seit langem ahnte sie, dass Lenny was von ihr wollte. Als sie letztes Jahr zusammen das Projekt zu den Stadtbiotopen gemacht hatten und immer gemeinsam über dem kleinen grünen Bestimmungsbuch saßen, da hatte sie sich ja fast hinreißen lassen. Sie hatte noch keinen Freund. Und Lenny war ganz okay. Aber … verliebt war sie nicht gerade in ihn. Kein bisschen eigentlich. Er war einfach noch so unreif. Man sah noch nicht mal einen richtigen Bartwuchs. Und, let’s face it , Lenny war eher uncool. Diese Pausbacken. Und immer saß er zu Hause und musste lernen oder Oboe üben. Ganz süß irgendwie, aber von einem Mann wollte man doch was anderes.
    Zum Glück war Lenny extrem schüchtern. Sara kam deshalb nie in die Verlegenheit, ihm direkt eine Abfuhr erteilen zu müssen. Sie rutschte bloß immer unauffällig ein Stückchen weg, wenn er ihr zu nahe rückte. Und wenn er seine ungeschickten Andeutungen machte oder ihr irgendwelche Sonette von Shakespeare mit roter Tinte abschrieb, dann tat sie einfach so, als verstünde sie nicht, was er damit sagen wollte.
    Aber nach dem Nachmittagsunterricht kam es dann doch zum Showdown. Er müsse mit ihr reden, sagte er und sah so ernst und blass aus, dass Sara es mit der Angst bekam. Ihr fiel auf, dass Lenny in letzter Zeit still und irgendwie bedrückt gewesen war. Es war bloß nicht richtig zu ihr vorgedrungen. Vor lauter Selim interessierte sie sich für Lenny überhaupt gar nicht mehr. Neben Selim Okyay stank Lenny derart ab, dass sie sich schon gar nicht mehr vorstellen konnte, ihn letztes Jahr überhaupt in Betracht gezogen zu haben.
    Jetzt stand ihr Lenny im Treppenhaus gegenüber, im Altbau, vor einem der hohen Fenster mit Buntglas.
    «Sara, ich muss mit dir reden.»
    «Das hast du eben schon gesagt. Gut, Lenny, rede, ich

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