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Staustufe (German Edition)

Staustufe (German Edition)

Titel: Staustufe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Reichenbach
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Hauptschülerdeutsch ist eine gewisse grammatikalische Vereinfachung sowie der türkische Akzent. Gerade Ihnen sollte dieser Soziolekt nicht unbekannt sein.»
    Jetzt wusste Aksoy, was er meinte. Sie hatte es bisher für ein Frankfurter Phänomen gehalten. Der Deutschenanteil in den Hauptschulklassen, ja selbst vielen Realschulklassen war hier so gering, dass die wenigen Jugendlichen aus deutschen Familien sich der Sprechweise der Migrantenkinder anpassten statt umgekehrt.
    «Aber Sie als Deutschexperte werden doch Frankfurter Hauptschülerdeutsch von Münchner unterscheiden können», lockte sie ihn.
    «O ja. Das schon. Aus München war sie nicht. Frankfurt kann ich nicht ausschließen. Aber wenn Sie mich schon fragen, ich habe ein paarmal gedacht, ich höre einen westfälischen Tonfall heraus.»
    «War das, als Sie bei ihr auf dem Bett saßen?» Kettler gab nicht auf.
    «Kann sein, ich … also nein, wirklich, jetzt lassen Sie aber mal diese Unterstellungen.»
    «Woher kommst du eigentlich?»
    «Von nirgends. Hat mal einer so zu mir gesagt, kein Ort, nirgends. Stimmt voll bei mir.»
    «In welcher Stadt bist du aufgewachsen?»
    «Im Ruhrgebiet. Aber ich will da nie wieder hin.»
    Sie saß auf dem Bett, die bleichen, nackten Beine an den Leib gezogen, und sog begierig an der Zigarette. Teure Filterkippen, Marke Dunhill. Sie hatte das Aussehen und die Stimme einer Elfe, aber ihr Deutsch war das einer Schlampe. Der Kontrast erregte ihn.
    «Ich hab mich voll in dem getäuscht, verstehst du», erzählte sie mit ihrer zarten Stimme. Es ging wieder um den Mann, der sie rausgeschmissen hatte. Darüber kam sie nicht hinweg.
    «Der war so nett die ganze Zeit. Ich hab gedacht, er und ich, das ist es, jetzt wird alles gut. Und dann, weißt du, dann war der plötzlich voll umgedreht, wahrscheinlich weil diese blöde Frau, also, angeblich ist die seine Frau, die hat ihm wohl Stress gemacht.»
    «Hast du türkische Verwandtschaft?», fragte er liebenswürdig, während er das Mädchen musterte wie ein anthropologisches Forschungsobjekt.
    «Nee», sagte sie, «wieso? Alle deutsch, ganz normal.»
    So sah sie auch aus. Aber sie hörte sich eher an wie eine Türkin. Der pseudotürkische Akzent war wohl einfach Assi-Sprache. Sie redete weiter, noch immer von diesem Nino, der ihn einen Scheißdreck interessierte. Er rutschte etwas näher an sie heran.
    « Und dann sagt der heute zu mir: Du kannst doch nicht bei uns wohnen, ich hab keine Zeit mehr für dich, will dich nie mehr sehen, hier hast du ein Fuffi, basta. Voll gemein. Hab ich dem gesagt, ey, von wegen du willst mir Zimmer bezahlen, mich von der Straße wegkriegen, was hast du mir alles versprochen, und jetzt lässt du mich hier stehen, einfach so. Sagt der, willst du noch nach Amerika? Ich so, klar will ich noch nach Amerika. Weil, das ist nämlich mein Traum, USA und so, L.A., cool, viel besser wie hier. Die Menschen sind da anders, weißt du. Sagt der: ‹Okay, ich kauf dir ein Ticket nach L.A., morgen um zehn an der Staumauer kriegst du’s. Mehr kann ich nicht für dich tun.› Cool. Hol ich mir morgen noch bei dem das Ticket, dann bin ich weg. »
    Er lächelte überlegen.
    «Kannst du denn überhaupt Englisch?»
    «Bisschen halt. Aber noch nicht so gut. Letztes Jahr hat mir so ein Ami aus Texas ein paar Wochen Hotel gezahlt, der hat mir Englisch beigebracht.»
    Zweifellos. Die kleine Schlampe hatte es trotz ihrer zerbrechlichen Jugend wohl schon mit Hunderten getrieben. Er wünschte, er hätte ein Gummi da.
    Ihr dünner, in einen langen Ärmel aus schwarzem Trikot gekleideter Arm fuchtelte gefährlich mit dem Glimmstängel. «Wo kann ich mal die Zigarette ausmachen?»
    Oh, oh. Sie hatte die ganze Zeit aufs Bett geascht. Vor lauter Faszination hatte er es gar nicht bemerkt. Er verzog das Gesicht und holte eine Untertasse aus dem Hängeschrank der Küchenecke. Dann fläzte er sich neben sie und setzte die Miene des väterlichen Freundes auf.
    «Warum bist du von zu Hause weg?»
    Sie rieb sich nervös am Unterarm. Unter dem Trikotstoff gab es ein metallisches Schabegeräusch. «Ich hab da viel Schlimmes erlebt», sagte sie. «Will nicht drüber reden.»
    «Missbrauch?», fragte er, fast ehrfürchtig hingehaucht. Die Vorstellung erregte ihn.
    Sie entzündete die nächste Zigarette, stob den Rauch durch die Nase aus. «Alles. Alles, was es an Scheiße gibt, hab ich zu Hause erlebt. Ist Vergangenheit, will ich nichts mehr mit zu tun haben. Zuhause gibt’s nicht mehr für

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