Staustufe (German Edition)
sie drin war, fiel Ihnen auf, dass sie stank. Wie haben Sie denn das gemacht? Fernriechen?»
«Ich … ich … das war mir schon vorher aufgefallen. Aber erst als sie in mein Bett kroch, wurde mir so richtig klar, wie ekelhaft ich das finde.»
«Weil Sie ihr dann doch etwas näher kamen? Oder war es ganz anders? Sie kamen zu Jennifer ins Bett, und nachdem Sie das Mädchen belästigt hatten, ist sie ins Wohnzimmer geflüchtet?»
Naumann sah gequält aus, aber begann den Zornigen zu spielen: «Also, wissen Sie, Sie können hier wegen mir den ganzen Tag Sexgeschichten erfinden. Aber davon werden die Geschichten nicht wahrer. Ich war mit dem Mädchen nicht im Bett, Punkt. Ich bleibe bei dem, was ich gesagt habe. Sie war kurz drin in meinem Bett, ich hab ihr gesagt, geh doch lieber ins Wohnzimmer, das ist alles.»
«Wenn das alles ist, warum haben Sie dann zunächst die Aussage verweigert?»
Der gequälte Ausdruck wandelte sich in das alte süffisante Lächeln.
«Raten Sie doch mal! Weil ich genau wusste, bornierte Leute wie Sie, die Ihr Weltbild aus der Bildzeitung und amerikanischen Fernsehserien beziehen, die werden niemals glauben, dass man einem Straßenmädchen für eine Nacht Asyl gewährt, einfach so, aus purer Menschenfreundlichkeit.»
Aksoy seufzte innerlich. Menschenfreundlichkeit war tatsächlich eine Eigenschaft, die sie bei Naumann nicht vermutete. Schon gar nicht, wenn es um junge Mädchen ging.
Trotzdem gab es ja durchaus Grund, ihm seine edlen Motive abzunehmen. Die Geschichte des homosexuellen Flugbegleiters zum Beispiel, der dem Mädchen monatelang erst ein Hotelzimmer und dann eine Wohnung bezahlt hatte. Die Tote hatte eine besondere Wirkung auf manche Menschen gehabt. Eine Wirkung, die nicht unbedingt mit Sex zu tun hatte. Abgesehen davon: Die Obduktion hatte bekanntlich keinen Anhaltspunkt für eine Vergewaltigung ergeben.
Aksoy lehnte sich nach vorn, kam dem Beschuldigten näher. «Und die Blutflecken auf der Wolldecke? Sind die auch aus reiner Menschenfreundlichkeit entstanden?»
«Ach Gott, diese Blutflecken!», rief Naumann und blickte gen Himmel. «Mit denen haben Sie mich ja schon das letzte Mal getriezt. Merkwürdig, dass mir die nicht aufgefallen sind, als ich die Wolldecken eingepackt habe. Das letzte Mal hab ich gedacht, Sie haben das erfunden, um mich zum Reden zu bringen. Aber Herr Wohlzogen hat mich nunmehr informiert, dass es diese Blutspuren tatsächlich gibt. Zum Glück ist es mir wieder eingefallen: Das Mädchen fragte mich, ob ich Küchenpapier hätte, sie sei am Menstruieren. Davon wird das Blut wohl stammen.»
Kettler begann nochmals:
«Wo standen oder saßen Sie denn, als das Mädchen in Ihr Bett kroch?»
«Ich … weiß ich nicht mehr. Was ist denn das für eine Frage? In der Tür, in der Tür hab ich gestanden.»
«Haben Sie, während Sie mit dem Mädchen im Bett waren, gemerkt, dass sie ihre Tage hatte?»
«Herrgott. Ich war nicht mit ihr im Bett.»
Jetzt mischte sich Anwalt Wohlzogen ein. «Mein Mandant hat zu diesem Thema alles gesagt», erklärte er, «ersparen Sie uns doch bitte tausend Nachfragen, bloß weil Sie den richtigen Täter nicht haben.»
Aksoy sah kurz in Wohlzogens unbewegtes Gesicht. Was der wohl von seinem Mandanten hielt? Ansonsten ließ sie seine Äußerung unkommentiert.
«Ach, Herr Naumann», setzte sie erneut an. «Sie sind doch sicher als Schriftsteller sehr versiert in der deutschen Sprache. Was hatten Sie denn für einen Eindruck, aus welcher Gegend Deutschlands diese Jennifer kam? War sie Hessin?»
Naumann hatte sich schon wieder gefangen.
«Sie gehen fälschlich davon aus, Hessen sei ein einheitliches Dialektgebiet», protestierte er. «Wahrscheinlich haben Sie noch nie davon gehört, aber die markanteste Isoglosse des deutschen Sprachraums verläuft durch Hessen. Welche Gegend Hessens meinen Sie also?»
«Oh. Da Sie sich so ausgezeichnet auskennen: Was hatten Sie denn für einen Eindruck, woher sie stammt? Vielleicht können Sie mir ja sogar exakt den Ort angeben.»
«Das könnte ich wahrscheinlich, wenn sie denn einen örtlichen Dialekt gesprochen hätte. Aber die gute Jennifer sprach, wie soll ich sagen, generisches Hauptschülerdeutsch.»
Aksoy zog die Augenbrauen hoch. «Was meinen Sie damit?»
«Sie beobachten die Entwicklung der deutschen Sprache gar nicht, oder? Aber wieso auch, es ist ja nicht Ihre Muttersprache. Es tut Ihnen ja nicht weh, wie sie sich auf allen Fronten auflöst. Das markanteste Merkmal des
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