SteamPunk 3: Argentum Noctis: SteamPunk (German Edition)
auszumalen.
Der Weg stellte für mich keinerlei Problem dar. Für Menschen kritische Enge herrschte nur für etwa zwei Meter; schon nach vier Metern würde Rachel wieder aufrecht stehen können. Der Gang, den ich jetzt betrat, war jedoch so sehenswert, dass ich nicht sofort umkehrte. Er bestand aus fugenlosem schwarzen Stein, der mit absolut perfekten Reliefs verziert war. Ich sah die lebensgroße Darstellung einer Frau, die vor einer Gruppe von Kriegern hertanzte. Die Männer schienen etwas zu tragen, doch es war vom Schutt verdeckt. An der gegenüberliegenden Wand breitete ein gewaltiger Drache seine Flügel über den Mond, während er die Sonne verschlang. Die Darstellungen waren so naturalistisch, dass ich bezweifelte, dass ein heutiger Bildhauer etwas Vergleichbares schaffen konnte. Fasziniert betrachtete ich die Details, die in das Kleid der Tänzerin eingearbeitet waren.
„Bradley?“ Charles’ Stimme klang besorgt und wurde durch den Gang seltsam hohl verzerrt.
„Ich bin hier! Es ist unglaublich. Ein Verbrechen, so etwas zuzuschütten.“ Ich ließ eine meiner Lampen stehen und kletterte zurück, um den beiden von meinem Fund zu berichten. Natürlich waren sie begeistert und folgten mir sogleich in den engen Zugang. Allerdings erwies sich die Passage als weit schwieriger denn gedacht. Als sie endlich neben mir im Gang standen war ihre Kleidung an vielen Stellen aufgerissen und von oben bis unten verdreckt. Die überwältigenden Reliefs entschädigten die beiden jedoch für diese Mühen. Staunend standen wir für mehrere Minuten vor den Kunstwerken.
„Ob das hier eine Art Grab ist?“ Rachel flüsterte, als würden wir uns in einem Museum befinden.
„Vielleicht“, meinte Charles ebenso leise. „Auch wenn der Stil völlig anders ist, fühlt man sich an ägyptische Grabanlagen erinnert.“
Ich verstand die Assoziation, aber irgendwie fühlte es sich so gar nicht nach einem Grab an.
Nur wenige Schritte weiter machte der Gang einen Knick. Auch hier war ein Spiegel installiert worden. Wohl wegen des engen Zugangs war er jedoch aus mehreren kleinen Spiegeln zusammengesetzt worden. Als wir die Ecke umrundeten, öffnete sich ein wenige Schritte langer Gang, der vor einem eigenartigen Portal endete. Es war oval wie ein Bilderrahmen und auch am unteren Ende geschlossen. Um den dahinter liegenden Raum betreten zu können, musste also eine gut dreißig Zentimeter hohe Schwelle überwunden werden. Ein sanfter aber unnatürlich kalter Hauch entströmte dem Tor und ließ mich frösteln. Unwillkürlich fühlte ich mich an einen auf der Seite liegenden Mund erinnert.
Meine Begleiter betrachteten unterdessen die beiden Reliefs, die den Zugang links und rechts des Ganges flankierten. Auf der einen Seite kniete eine nackte Frau. Ihre ehrerbietig erhobenen Hände reichten aus dem Relief heraus und wirkten beinahe wie echt. Bestimmt hatte einst irgendetwas in diesen Händen gelegen. Gegenüber zeigte das Relief ein menschliches Skelett mit Katzenschädel. Auch das Skelett streckte die knochigen Hände aus der Wand heraus. Sie hielten ein großes steinernes Becken. Das wuchtige Becken an den filigranen Handgelenken aufzuhängen, schien den Gesetzen der Statik zu widersprechen. Noch viel erstaunlicher war jedoch die unerreichte Qualität und der makellose Zustand der Kunstwerke.
Mehr und mehr schien sich unser Ausflug zu einer archäologischen Expedition zu entwickeln. Dennoch nahmen wir uns nicht so viel Zeit, wie wir es gerne tun würden. Jeden Augenblick konnten wir entdeckt werden. Außerdem war nicht abzusehen, wie lange unsere eigentliche Aufgabe in Anspruch nehmen würde.
Bevor Charles durch das Portal trat, nahm er mich dankenswerterweise auf und verstaute mich erneut in seiner Brusttasche. Das mag sich etwas merkwürdig anhören, aber mittlerweile hatte ich mich daran gewöhnt, dass Julie, Charles, Fifi und Rachel mich plötzlich ungefragt ergriffen und irgendwo verstauten oder hintrugen. Als intelligente Ratte muss man einfach begreifen, dass die persönliche Würde nicht von solchen Äußerlichkeiten abhängt. Und schließlich wäre es weit würdeloser, wenn ich ständig darum bitten müsste, hierhin getragen oder dort hinaufgesetzt zu werden, nicht wahr? Jedenfalls wartete die eigentliche Überraschung unseres Ausflugs hinter dem ovalen Portal: Wir betraten einen etwa fünf mal drei Meter großen Raum – zumindest war dies der Teil des Raums, der zu sehen war. Statt Wänden schien es eine unsichtbare
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