Steels Entscheidung: Historischer Roman (German Edition)
Kolonnade zur Treppe schritt. Nachdem man ihm seine Unterkunft zugewiesen hatte, hieß er die Möglichkeit willkommen, etwas Zeit für sich selbst zu haben. Denn die Stunden, in denen er sein Alter Ego hatte spielen müssen, hatten ihn ermüdet. Den Iren war er zum Glück nicht mehr begegnet, wofür er dankbar war. Doch es war der Einäugige, der ihm lebhaft vor Augen stand, als er jetzt auf dem Weg zur Treppe die Gestalt eines Mannes im Zwielicht erahnte, der an der Mauer lehnte, halb verborgen in den Schatten der Kolonnade.
Dieser Mann wollte gewiss nicht gesehen werden. Er schien auf jemanden zu warten. Instinktiv vergewisserte sich Steel, dass er seinen Degen dabeihatte. Als er an der im Schatten wartenden Gestalt vorüberging, machte er sich auf einen Zwischenfall gefasst. Doch der Mann machte keine Anstalten, seine Waffe zu ziehen.
Dafür sprach er Steel an. Er sagte nur ein Wort, aber das genügte, um Steel zu entwaffnen.
»Jack.«
Steel blieb abrupt stehen und drehte sich langsam zu der Stimme aus dem Dunkel um. Er hatte gewusst, dass sein Bruder ihn nach der ersten Begegnung aufsuchen würde, aber er hatte nicht damit gerechnet, dass es schon so bald sein würde, und dann noch an einem öffentlichen Ort wie diesem. Kaum hatte er sich ganz umgedreht, schlenderten einige Pensionäre an ihm vorbei; einer von ihnen sah Steels Uniformrock und murmelte ein »Guten Abend« auf Englisch. Steel nickte den Männern kurz zu, ehe er sich der Gestalt in den Schatten zuwandte.
»Alexander! Du bist es. Gott sei Dank. Wir müssen unbedingt reden.«
Alexander Steel löste sich aus den Schatten. Zu Steels Überraschung lächelte er. Dann umarmte er seinen älteren Bruder.
»Captain Johnson! Was für eine Freude, Euch nach so vielen Jahren wiederzusehen. Und jetzt steht Ihr in Diensten von König Ludwig.« Leiser fügte er hinzu: »Ich muss bekennen, ich hätte nie daran gedacht, dass du dich uns anschließen würdest. Aber sag mir, warum dieser Name?«
Steel konnte nicht recht einschätzen, ob sein Bruder wirklich glaubte, dass er, Jack, sich der Sache der Jakobiten angeschlossen hatte, oder ob er ihn für einen Spion hielt. Alexander war immer schon ein gerissener Bursche gewesen, ein Experte mit der Angelrute und so verschlagen bei seinen Streichen wie bei der Verfolgung der Hirsche damals in der Heimat. Und immer schon hatte er eine grüblerische, leicht zynische Ader gehabt. Steel vermutete, dass Alexander instinktiv spürte, dass sein älterer Bruder andere Ziele verfolgte als er selbst – obwohl er vielleicht daran glauben wollte, dass Steel sich den Jakobiten angeschlossen hatte, um die Stuart-Monarchie wieder auf den Thron zu bringen.
Da Alexander die ernste Miene seines Bruder bemerkte, sah er sich in seinem Verdacht bestätigt und ließ Steels Arm los. »Warum bist du hier, Jack?«, fragte er. »Ich weiß, dass du kein Verräter bist. Nicht du, Jack. Du bist eine ehrliche Haut und würdest nie deine erste Liebe verraten.«
Steel zog eine Braue hoch.
»Ich spreche von der Armee, Jack. Und wenn du nicht hier bist, um die Armee zu verraten, dann gibt es nur eine Erklärung: Du bist ein Spion.«
Er schaute seinem Bruder tief in die Augen. Und trotz der vielen Jahre, die sie einander nicht gesehen hatten, erhaschte er einen Blick in Jacks Seele und hatte alle Antworten, die er brauchte.
»O Gott, Jack. Ich habe recht, nicht wahr? Sag mir, dass ich falschliege. Sag mir, dass du diesen Uniformrock als Offizier von Clares Einheit trägst und aus keinem anderen Grund.«
Steel schüttelte den Kopf. »Ich kann dich nicht anlügen. Du bist zu clever, Alexander. Du warst immer schon der Klügere von uns beiden.«
»Verdammt, Jack. Bist du von Sinnen? Ist dir überhaupt klar, wo du jetzt bist? Weißt du, wer der Mann war, der mit mir in Charpentiers Raum gewesen ist?«
»Du meinst Major Malbec?«
»Ja, Claude Malbec. Einer der höchstdekorierten und vielleicht skrupellosesten Offiziere in König Ludwigs Armee. Ich kenne keinen, der entschlossener wäre. Er ist seinem König treu ergeben. Die Briten hasst er wie die Pest. Sie haben seine Familie getötet, Jack. In Le Havre. Seine Frau und seine Kinder kamen im Artilleriefeuer ums Leben. Hast du überhaupt eine Vorstellung, was Malbec mit dir machen würde, wenn er herausfände, wer du wirklich bist?«
Steel seufzte. »Ich kann es mir denken.«
»Du kannst es dir denken? Jack, mir scheint, im Lauf der letzten Jahre hast du den Verstand verloren. Er würde dich
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