Stefan George - Karlauf, T: Stefan George
Bildungsstoff so weit an, dass er ihn mühlos auf die Verhältnisse zu Hause übertragen konnte: So etwa ließe sich der im Vorspiel dokumentierte Prozess umschreiben. Allerdings sind, was die gleichgeschlechtliche Liebe betrifft, die verschlüsselten Botschaften nicht zu übersehen. In der Gruppe der ersten sechs Gedichte ist viel von Verführungen die Rede, von der falschen Suche nach irdischem Glück – »Um dich! mit meiner stirn an deiner brust..« ( Vorspiel IV ) Am Ende dankt der Dichter seinem Engel, dass er ihm half, »Der trocknen sommer wilde feuersbrunst« zu überstehen ( Vorspiel VI ). 49 Die folgende Gedichtgruppe bestimmt Georges Verhältnis zur Außenwelt neu: »hoch vom berge / Sollst du schaun wie sie im tale tun.« Die Sympathien des siebten Gedichts gehören den Griechenschwärmern:
Eine kleine schar zieht stille bahnen
Stolz entfernt vom wirkenden getriebe
Und als losung steht auf ihren fahnen:
Hellas ewig unsre liebe. 50
»Du sprichst mir nie von sünde oder sitte«, wundert sich der Dichter und lässt den Engel antworten, die Liebe derer, die ihm folgten, unterliege eigenen Gesetzen – jenseits »von scham von reue oder fluch« ( Vorspiel VIII ). Soll sich das Volk doch das Maul zerreissen! »Für mich gibt es so etwas wie Sünde nicht«, hatte George zu Scott gesagt, »sondern nur Taten, Gedanken oder Gefühle, die entweder schön oder häßlich sind.« 51 Vorspiel XII , dem aufgrund seiner Stellung zentrale
Bedeutung zukommt, greift das um die Jahrhundertwende weit verbreitete Vorurteil auf, Homosexuelle sähen aufgrund ihrer angeblichen Ausschweifungen stets bleich und kränklich aus. George nutzt diese Stereotype rhetorisch geschickt zur Verherrlichung der eigenen Position:
Wir die als fürsten wählen und verschmähn
Und welten heben aus den alten angeln
Wir sollen siech und todesmüde spähn
Und denken dass des höchsten wir ermangeln -
Dass wir der liebe treuste priester wol
Sie suchen müssen in verhülltem jammern
Die augen weit von wilden feuern hohl -
George fürchtet jedoch weniger die scheelen Blicke und Verleumdungen der Gesellschaft. Was ihn beunruhigt, ist vielmehr die Angst, ein weiteres Mal einem Menschen anheim zu fallen, der sich seiner Liebe nicht wert erweist. »Und wenn wir endlich unser gut umklammern / Dass es gekrönt verehrt genossen kaum / Den sinnen wieder flüchtet fahl und mürbe.. / All unsre götter schatten nur und schaum!« Aber auch hier weiß der Engel Rat. Mit seiner Antwort endet der erste Teil des Zyklus: »Da jedes bild vor dem ihr fleht und fliehet / Durch euch so gross ist und durch euch so gilt.. / Beweinet nicht zu sehr was ihr ihm liehet.« Zwar dürfe man die Schlusszeilen nicht verallgemeinern, erklärte George später, aber wenn einer »dem Übermaß menschlichen Verstricktseins« ausgeliefert sei, lasse er sich gern mit dem Hinweis trösten, dass es sich womöglich um eine falsche Projektion handele. 52
Während die erste Hälfte des Vorspiels von dem Bemühen zeugt, sich mit Hilfe der Kunst aus den Verstrickungen der Liebe zu befreien, sucht George in der zweiten Hälfte den Freundschaftsbegriff neu zu bestimmen. Trotz gelegentlicher Nostalgien – »in starker schmerzgemeinschaft euer / Erfass ich eure brüderlichen hände« ( Vorspiel XIV ) – macht er sich nach und nach die Erkenntnis des Engels zu eigen: »Die jünger lieben doch sind schwach und feig« ( Vorspiel XXII ). Wenn der Dichter im letzten Gedicht, von allen verlassen,
auf der Totenbahre liegt, steht das Ideal hoher Freundschaft in Gestalt des Engels umso leuchtender vor ihm.
Aus den Enttäuschungen der Liebe werden auf diese Weise Siege der Kunst. Die Angst vor der Hingabe wird als Angst gedeutet, vom Weg der Kunst abzukommen. Den Forderungen des Engels Folge zu leisten und auf die Erfüllung irdischen Glücks ganz zu verzichten, fällt dem Dichter jedoch schwer. Also sucht er nach einem neuen Verhältnis von Kunst und Eros: Nicht eine Entscheidung für oder gegen die Kunst, für oder gegen den Eros soll es sein, nicht der Verzicht des einen zugunsten des andern, sondern Äquidistanz. Die Erotik soll entdämonisiert, die Kunst versinnlicht werden. Der solchermaßen vergeistigte Eros wird zum ästhetischen Ideal, die Kunst selbst als höchste Steigerung des Eros begriffen. Der Engel, schrieb Gundolf 1920, sei Logos und Eros in einer Person, »die Sinnen-Schönheit des Lebens als greifbarer, begreifbarer Geist«. 53 Aus der Dialektik von Eros und Logos entwickelten
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