Stefan George - Karlauf, T: Stefan George
faden Geschmack der Alltäglichkeit hinterläßt.« 7 Drei Monate nach Kriegsausbruch dankte Thomas Mann in der Neuen Rundschau seinem Schöpfer »für den Zusammenbruch einer Friedenswelt, die er so satt, so überaus satt hatte!« 8
Mit dem Siegeszug des Industriekapitalismus und der Naturwissenschaften waren seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer deutlicher auch die durch technischen Fortschritt und Emanzipation bedingten Missstände zu Tage getreten. Die mit der Beschleunigung der Produktionsverfahren, wachsendem Wohlstand und sozialen Aufstiegsmöglichkeiten verbundene Entwicklung führte nicht nur dazu, dass die Gesellschaft »immer mehr in einzelne soziale Klassen« zerfiel; dieser Prozess ging auch einher mit »einem ungeheuren Defizit an idealer Begeisterung«. 9 Es war ein Widerspruch, den die Vorkriegsgesellschaft auf Dauer nicht aushielt, dass die Kräfte des Beharrens, die am heftigsten gegen den allgemeinen Fortschritt wetterten, am stärksten von ihm profitierten. Der materielle Fortschritt »trug in Europa allenthalben dazu bei, die alte Ordnung zu festigen, statt sie zu liberalisieren«. 10
In seiner Mischung aus Zivilisationskritik und neuer Spiritualität
spiegelte das Georgesche Werk die Ambivalenz des wilhelminischen Bürgertums wider. Konnten sich der Dichter und sein Publikum eine Zeitlang gegenseitig der Illusion versichern, dass sie dasselbe meinten, wenn sie von unmittelbar bevorstehenden letzten Entscheidungen sprachen, so trat im August 1914 die Diskrepanz der Wahrnehmung offen zu Tage. Während der Großteil der kriegsbegeisterten Nation dem Wahn erlag, die kulturelle Überlegenheit Deutschlands werde zwangsläufig einen schnellen Sieg der deutschen Waffen herbeiführen, machte George klar, dass er einen anderen Kulturbegriff vorzog und über Sieg oder Niederlage hinaus dachte. Er blieb bei seiner bekannten Linie, sich politisch nicht festzulegen und die Ereignisse von einer höheren Warte zu beurteilen: »Am streit wie ihr ihn fühlt nehm ich nicht teil.« 11
Auf der anderen Seite betonte die Propaganda, die der George-Kreis in den Jahren zwischen 1910 und 1914 betrieb, immer wieder, dass der Dichter das Schicksal der Nation auf das Engste mit dem seinen verknüpft habe. »Ich bin ein Barometer für Deutschland«, äußerte er selber im September 1916, als die Briten an der Somme erstmals Panzer einsetzten und er krank wurde. »Durch Krankheit und Niedergeschlagenheit zeigt sich mir an, was am Leibe Deutschlands geschieht.« 12 Zwei Monate später bekundete er gegenüber Kurt Breysig seine Bereitschaft, notfalls, wenn »kein Besserer für die Leitung da sei«, selber Regierungsverantwortung zu übernehmen. 13 George war im Übrigen nicht der Einzige, der solchem Größenwahn anheimfiel; im gleichen Jahr verlangte etwa Kurt Hiller, dass ein »Rat der Geistigen« gebildet und an der Regierung beteiligt werde.
Dennoch ließ sich eine gewisse Resignation schon bald nicht mehr überhören. Das hatte weniger mit dem für die Mittelmächte ungünstigen Kriegsverlauf zu tun als mit der Sorge, nach dem Krieg nicht mehr da anknüpfen zu können, wo er 1914 hatte aufhören müssen. Die deutsche Jugend an das Ideal heranzuführen, das er im Mythos von der Göttlichkeit Maximins entworfen und in den Gedichten des Stern zum pädagogischen Programm ausgearbeitet hatte, war in den Jahren vor dem Krieg Georges Hauptgeschäft gewesen. »Nun seh ich
hunderte von edlen stirnen / Auf die dein schimmer heimlich eingeflossen«, jubelte er in einem großen Dankgedicht an Maximin wenige Wochen nach Kriegsausbruch, im Oktober 1914. 14
Eine Woche später begann die erste Flandern-Schlacht, bei der Zehntausende junge Deutsche ihr Leben ließen. George schien früh geahnt zu haben, dass »durch den Krieg sein Hauptwerk in Frage gestellt« werden könnte. 15 »Nach dem Krieg finge sein Kampf erst an«, betonte er ein ums andere Mal und gab damit indirekt auch zu erkennen, dass er sein Ziel noch nicht erreicht hatte. Aber ob er die Chance von 1914, die Chance eines direkten Zugriffs auf die deutsche Jugend, nach diesem Krieg noch einmal bekam? Alle Hoffnungen, die George in die deutsche Jugend gesetzt haben mochte, wurden im August 1914 jäh durchkreuzt. Natürlich freute es ihn, wenn er hörte, dass Norbert von Hellingrath sich ein Exemplar des Stern des Bundes auf Handtellergröße zurechtgeschnitten hatte und – wie seinerzeit die Hölderlin-Handschriften, für die er sich spezielle Innentaschen
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