Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stefan George - Karlauf, T: Stefan George

Stefan George - Karlauf, T: Stefan George

Titel: Stefan George - Karlauf, T: Stefan George Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Karlauf
Vom Netzwerk:
Verhältnisse in milderem Licht gesehen haben. Wiederholte Teilnahme am häuslichen Leben bestimmte umgekehrt auch Georges Wahrnehmung des holländischen Freundes. Jedes Mal, wenn in Noordwijk Nachwuchs kam – 1906 wurde das letzte der sieben Verwey-Kinder geboren -, gratulierte er.
    Ende Juli 1896 kehrte George, nachdem er fast drei Wochen am Krankenbett seines Bruders in Brüssel verbracht hatte, nach Bingen zurück. Im August kümmerte er sich um den Versand der beiden neuen Nummern der Blätter , traf sich zweimal mit Klein, der ihm eröffnete, dass er für einige Zeit nach London gehen werde, und hatte Gérardy und Wolfskehl zu Gast. Er habe »den besuch fast sämmtlicher mitarbeiter der Blätter bei mir am Rhein« gehabt, schrieb er, wie immer ein wenig übertreibend, an Hofmannsthal. 26 Am 4. September traf George dann zu seinem zweiten Besuch bei Verwey, dem ersten längeren Aufenthalt in Noordwijk ein. Verwey und er verstanden sich so gut, dass sie beim Abschied beschlossen, einmal »einen ganzen monat zusammen zu verbringen«. Außerdem wollten sie so bald wie möglich ein gemeinsames Buch über Deutschland und Holland verfassen. 27 Ein längeres Zusammensein ließ sich im Herbst des Folgejahrs in Berlin arrangieren, und von da an trafen sie sich regelmäßig für zwei bis drei
Wochen im Jahr. Viele Jahre gehörten die großen Ferien in Noordwijk zu den Fixpunkten in Georges Lebens.
    George hat der immerwährenden Gastfreundschaft der Verweys im Gedicht »Dünenhaus« ein Denkmal gesetzt. Das Gedicht, das möglicherweise schon im Anschluss an seinen ersten Aufenthalt im September 1896 entstand, beschreibt die sommerliche Stimmung an der See – »wenn die schatten weich / Abends über Holland sinken«. Der Gast kann die Idylle jedoch kaum genießen. Obwohl die Gastgeber ihm jeden Wunsch gewähren und ihn mit großer Zuvorkommenheit behandeln, wird er seine innere Unruhe nicht los. »Dünenhaus« liest sich wie eine Bitte um Nachsicht mit dem »düster-mütigen starren gast«, der weiß, dass er den Freunden manches zumutet. Um sein ungeselliges Verhalten zu erklären, zitiert George in der Schlussstrophe den Mythos von Phaeton. Das Bild des Sonnensohnes, der mit dem Wagen seines Vaters den Himmel durchqueren wollte und am Ende die Welt in Brand setzte, weil er die Pferde nicht halten konnte, ist als Schlusspointe so überraschend wie wirkungsvoll: »So irrte / Sonnensohn an wolken hin / Starb im rasen nach dem glücke.« 28
    Das Bild des sich selbst verzehrenden Phaeton steht in scharfem Kontrast zur Behaglichkeit des Verweyschen Dünenhauses voll »tiefen friedens«. Neben der Gastlichkeit werden Freiheit und Stolz im Gedicht als die herausragenden Charaktereigenschaften seiner Bewohner genannt. Eigentlich gäbe es über solche stillen Tage gar nichts Besonderes zu berichten, meinte Verwey im Rückblick auf ihre gemeinsamen Sommer. George begleitete die Familie auf langen Dünenwanderungen und bei gelegentlichen Tagesausflügen, lag mit Verwey am Strand oder spielte mit den Kindern im Garten. Am Abend tauschte er sich mit Kitty über skandinavische Literatur aus oder zeigte Albert, wie man Bücher bindet. In Noordwijk konnte sich George entspannen. Hier konnte er das freie Gespräch genießen, ohne fortwährend einer Rolle gerecht werden zu müssen. George und Verwey sprachen von gleich zu gleich, von Dichter zu Dichter.
    Dennoch blieb der Gast ein »Geist der Einsamkeit«. 29 Georges Bedürfnis, sich abzukapseln, fiel Verwey erstmals im Juli 1900 auf, als
der Freund in Begleitung seiner Schwester zwei Wochen Ferien in Noordwijk machte. Damals kam es zu ersten Differenzen über das Thema Deutschland-Holland. George beteiligte sich sehr viel weniger an gemeinsamen Vergnügungen der Familie als in früheren Jahren. Im Januar hatte Verwey ein Gedicht geschrieben, »Der Einsame«, das er George jetzt vorlas. Als die erste Strophe geendet hatte, rief George spontan: »Das bin ich.« – »Seine Größe als Dichter, seine Liebenswürdigkeit als Mensch waren nicht zu leugnen«, bilanzierte Verwey. Die Gefahr zunehmender Vereinsamung habe ihn jedoch schicksalhaft gezeichnet. »Meine Bewunderung war daher stark gemischt mit Mitgefühl.« Keiner der Vertrauten hätte so etwas je auszusprechen gewagt. Auch Verwey fand den Mut zu diesen Sätzen erst nach Georges Tod. Er wusste, dass George die Vorstellung, von seinen Freunden bemitleidet zu werden, tief verletzt hätte. Aber wie behutsam auch immer er mit ihm umging:

Weitere Kostenlose Bücher