Stefan Zweig - Gesammelte Werke
duldete man die Juden von Byzanz nur in Pera an der andern Küste des Goldenen Horns; hier wie überall war das Abseits ihr Schicksal, aber auch das Geheimnis ihres Überdauerns in der Zeit.
Gefüllt und überfüllt schwülte das enge Gelaß des Bethauses. Denn nicht nur die Juden von Byzanz waren wartend versammelt; auch von fern und nah, aus Nycäa und Trapezunt und Odessa und Smyrna und den Städten des thrakischen Lands, von allen jüdischen Gemeinden waren Abgesandte gekommen, um teilzunehmen an Rat und Geschehnis. Längst hatte die Nachricht, Belisar habe die Zwingburg der Vandalen erstürmt und mit den Schätzen auch den ewigen Leuchter zurückerbeutet, über alle Küsten des Meers sich in die Gemeinden verbreitet; kein Jude war im Reich von Byzanz, der nicht erregt die Botschaft empfing. Denn ob auch wie Spreu über die Tennen der Welt geworfen und in viele Sprachen zerrissen, immer war noch diesem verlorenen Volke alljedes, was seinen heiligen Zeichen geschah, gemeinsam zu Lust und Leide getan, und sonst oft widereinander verhärtet und vergeßlich, schmolzen ihre Herzen brüderlich zusammen bei jeder Gefahr. Unablässig schmiedeten Verfolgung und Unrecht das eiserne Band neu, das den zertrümmerten Stamm ihrer Einheit noch hielt, daß er nicht morsch werde und stürze; und je härter das Schicksal gegen die einzelnen schlug, desto stärker wuchsen ihre Seelen zur Einheit zusammen. Auch diesmal traf das Gerücht, die Menorah, der Leuchter des Tempels, der Leuchter des Volks, sei abermals befreit aus verborgener Haft und wandre wieder wie dereinstens von Babel und Rom über Länder und Meere, jeden einzelnen Juden wie sein eigenes Geschick. Auf den Straßen, in den Häusern standen sie heftig redend beisammen, sie durchforschten mit ihren Lehrern und Weisen die Schrift, um den Sinn solcher Wanderschaft zu deuten. Denn was meinte es, daß das Heiligtum wieder zu wandern begonnen? Meinte es Hoffnung oder Not? Fing abermals neue Verfolgung an oder war es ihr Ausgang? Würden sie wiederum bald die Vertriebenen sein und die ziellosen Pilger der Straßen, wieder und wieder die Ruhelosen, nun der Leuchter ruhelos ging? Oder meinte des Leuchters Erlösung auch Erlösung für sie, Aufbruch und Heimkehr, endlich, endlich das Ende der unseligen Wanderschaft? Allen brannte die Seele vor Ungeduld. Boten liefen von Ort zu Ort, um mehr zu erkunden von des Leuchters Fahrt und Bestimmung, und groß war ihr Schrecken, als endlich berichtet ward, abermals werde in öffentlichem Triumph wie einstens zu Rom dies letzte Gerät des Tempels vor den Kaiser Justinian geführt werden. Schon diese Botschaft bestürmte gewaltig die Seelen. Zur Trunkenheit aber wuchs die wilde Erregung, als von Rom die Sendschreiben der Gemeinde eintrafen, Benjamin Marnefesch, der bitter Geprüfte, der als Kind als letzter den Leuchter bei dem vandalischen Raube gesehen, sei unterwegs nach Byzanz. Ein Staunen überkam sie zuerst. Denn seit Jahren und Jahren kannten alle Juden, ob weit auch in der Ferne zerstreut, die wunderliche Tat jenes siebenjährigen Knaben, der beim Raub der Vandalen den Räubern den Leuchter entreißen gewollt und dem er im Sturz den Arm zerschlagen. Die Mütter erzählten ihren Kindern von Benjamin Marnefesch, dem Geschlagenen Gottes, die Gelehrten ihren Schülern. Längst war seine Tat fromme Sage geworden wie die der Schrift, die man las und lernte. Abends sprach man sie sich vor in den jüdischen Häusern wie eine der alten, wie die hellen und dunklen Taten von Ruth und Simson und Haman und Esther, von den Müttern und heiligen Ahnen des Volks. Und nun kam plötzlich die Botschaft, die unglaubhafte, die wunderbare: dieses Kind von damals, es lebte noch. Und mehr noch, dieses Kind, nun ein Greis, kam über Länder und Meere. Er war am Wege, Benjamin Marnefesch, der letzte Zeuge, um noch einmal den Leuchter zu sehen. Dies mußte ein Zeichen sein! Nicht umsonst konnte Gott diesen einen bewahrt und gespart haben über das sonstige Maß der irdischen Zeit. Vielleicht als ein Berufener war er gerufen, das Heiligtum heimzuführen und sie selber zugleich. Und je mehr sie redeten einer zum andern, desto weniger zweifelten sie: der Glaube an den Erretter, den Erlöser, ewig in dem Blute dieses verstoßenen Volks keimend und aufknospend bei dem ersten warmen Wind jeder Hoffnung, nun brach er mächtig empor und befruchtete ihre Herzen. Staunend sahen in den Dörfern und Städten die fremden Nachbarn auf die Juden, denn anders waren sie
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