Steh zu dir
als er Carole zum ersten Mal im La Pitié Salpêtrière besuchte. Damals hatte sie wie tot ausgesehen. Ihre Genesung war wie eine Neugeburt. Und dass sie einander wiedergefunden hatten, war für sie beide wie ein Traum.
»Mein Haus ist hübsch«, sagte Carole in den Hörer und blickte sich um. »Das hatte ich ganz vergessen.«
»Ich kann kaum erwarten, es zu sehen.«
Sie plauderten noch ein paar Minuten und verabschiedeten sich dann. Stevie kümmerte sich derweil um alles. Zehn Minuten später traf die Krankenschwester ein. Es war eine nette Frau, die ganz aufgeregt schien, Carole kennenzulernen. Wie viele andere hatte auch sie in der Zeitung von dem Attentat gelesen und sagte zu Carole, es grenze an ein Wunder, dass sie überlebt habe.
Carole ging in ihr Schlafzimmer und schaute sich um. Sie hatte sich bereits vor einer Weile wieder daran erinnert, und der Raum war genau so, wie sie ihn vor Augen gehabt hatte. Nachdem sie durch das Fenster auf den Garten geschaut hatte, schlenderte sie in ihr Arbeitszimmer und setzte sich an den Schreibtisch. Stevie hatte den Laptop bereits angeschlossen. Die Krankenschwester ging in die Küche, um das Mittagessen zuzubereiten. Stevie hatte die Reinigungskraft telefonisch gebeten, Lebensmittel liefern zu lassen. Wie immer hatte sie an alles gedacht.
Stevie und Carole setzten sich zum Essen in die Küche, wie sie es meistens taten. Carole hatte ihr Truthahnsandwich zur Hälfte gegessen, als sie plötzlich in Tränen ausbrach.
»Was ist los?«, fragte Stevie fürsorglich, obwohl sie die Antwort kannte.
»Ich kann nicht glauben, dass ich hier bin! Ich dachte, ich würde nie wieder nach Hause zurückkehren.«
Endlich durfte sie zu ihrer Angst stehen. Jetzt musste sie nicht mehr tapfer sein. Erst das Bombenattentat, dann der Mordanschlag. Das war mehr, als ein Mensch wegstecken konnte.
»Es geht dir gut«, erinnerte Stevie Carole und umarmte sie. Dann reichte sie ihr ein Papiertaschentuch, damit sie sich die Nase schneuzen konnte.
»Tut mir leid. Ich habe gar nicht gemerkt, wie durcheinander ich war. Und dann noch die Sache mit Matthieu … Das muss ich erst einmal verarbeiten.«
»Das steht dir zu«, versicherte Stevie. »Wenn es dir hilft, dann schrei ganz laut. Du hast es verdient.«
Die Krankenschwester räumte das Geschirr ab. Stevie kochte für Carole eine Tasse Vanilletee und blieb mit ihrer Freundin noch eine Weile am Küchentisch sitzen.
»Du solltest nach Hause fahren«, ermahnte Carole sie.
»Alan wartet bestimmt schon ganz ungeduldig auf dich.«
»Er holt mich in einer halben Stunde ab. Ich werde dich später anrufen und berichten, wie es war.« Stevie wirkte nervös und aufgeregt.
»Genieß es einfach, ihn wiederzuhaben. Du kannst mir auch morgen noch alles erzählen.« Carole hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie so viel von Stevies Zeit in Anspruch nahm. Stevie hatte ihr immer weit mehr gegeben als das, was man als ihre »Pflicht« bezeichnen konnte. Eine halbe Stunde später hupte Alan draußen zweimal, und Stevie sauste durch die Tür. Carole rief ihr noch »Viel Glück« hinterher.
Die Krankenschwester half Carole beim Auspacken der Koffer. Danach setzte sie sich an den Schreibtisch und starrte aus dem Fenster. Der Computer wartete auf sie, aber Carole war zu müde, um ihn auch nur anzurühren.
Bei ihr war es jetzt drei Uhr am Nachmittag, in Paris jedoch bereits Mitternacht.
Später ging sie hinaus in den Garten und telefonierte mit ihren Kindern. Chloe würde am nächsten Tag eintreffen und sagte, sie könne es kaum erwarten, ihre Mom zu sehen. Carole hätte sich gern hingelegt, aber sie wollte sich möglichst schnell auf die kalifornische Zeit einstellen, deshalb blieb sie bis zehn Uhr auf. Doch sie schlief ein, sobald ihr Kopf das Kissen berührte.
Als sie am nächsten Tag um halb elf erwachte, sah sie erstaunt, dass Stevie feixend durch die Tür spähte.
»Bist du wach?«
»Wie viel Uhr ist es? Ich muss zwölf oder dreizehn Stunden geschlafen haben.« Carole rekelte sich und gähnte herzhaft.
»Du hast es gebraucht«, antwortete Stevie und zog die Vorhänge beiseite. Carole sah sofort, dass an Stevies linker Hand ein Diamant blinkte.
»Nun?« Mit schläfrigem Lächeln setzte sie sich auf. Sie hatte Kopfschmerzen und an diesem Morgen Termine beim Neurologen und beim Neuropsychologen. Die beiden arbeiteten im Team mit Patienten, die schwere Kopfverletzungen erlitten hatten. Carole nahm an, dass die Schmerzen von der Zeitumstellung und dem
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