Steh zu dir
zeigten ihr Fotos von einem Dutzend Männern. Aber bis auf den Jungen erkannte sie niemanden. Einer der Abgebildeten erinnerte sie vage an den Fahrer des Wagens, aber sie hatte damals nicht so genau hingesehen, sondern sich ganz auf den Jungen im Fond konzentriert, und war sich deshalb nicht sicher. Er war ihr damals direkt aufgefallen, weil er sich so merkwürdig verhielt.
Auch andere Erinnerungen stellten sich nach und nach wieder ein. Häufig waren sie aus dem Zusammenhang gerissen und ergaben anfangs keinen Sinn für Carole. Sie sah die Farm ihres Vaters vor sich und erinnerte sich an das Melken der Kühe, als wäre es gestern gewesen. Sie hörte das Lachen ihres Vaters, aber sein Gesicht blieb verschwunden, so sehr sie sich auch konzentrierte. Die erste Begegnung mit Mike Appelsohn in New Orleans war ebenfalls ein schwarzes Loch für sie. Dafür erinnerte sie sich mittlerweile an die Probeaufnahmen und ihren ersten Film. Auch die Hochzeit mit Jason, das Apartment in New York, in dem sie gelebt hatten, und sogar Anthonys Geburt fielen ihr wieder schemenhaft ein. Das war alles. Sie wusste weder, wie sie Jason kennengelernt, noch, welche Filme sie gedreht hatte. Und sie konnte sich auch nicht an Chloe, die Oscars und den größten Teil ihrer Beziehung mit Sean erinnern.
Wie Ausschnitte aus einem Film tauchten einzelne Fetzen auf, landeten auf dem Tisch des Cutters und mussten neu zusammengesetzt werden. Namen fielen ihr ein oder Gesichter, anfangs ohne Bezug, bis sie dann eine ganze Szene klar vor Augen hatte. Es kam ihr vor wie eine bunte Patchworkdecke, die sie ständig anders zusammensetzen musste. Und immer, wenn sie dachte, sie hätte alles richtig sortiert, fiel ihr etwas Neues ein und warf ihre Vorstellung über den Haufen. Alles war ständig in Bewegung und veränderte sich, wie die Farben in einem Kaleidoskop. Das andauernde Sortieren und Verstehen war sehr anstrengend. Immerzu stellte sich Carole Fragen und versuchte, Antworten zu finden. Es war ein Vollzeit-Job – der härteste, den sie je gehabt hatte.
Stevie entging nicht, wie kräftezehrend das alles für Carole war. Sobald sie merkte, das Carole wieder nach ihren Erinnerungen suchte, saß sie schweigend im Zimmer und ließ sie in Ruhe. Es konnte Stunden dauern, in denen Carole scheinbar nur vor sich hinstarrte. Aber früher oder später sagte sie dann etwas, vermochte zum Beispiel den Fotos in den Alben plötzlich Namen zuzuordnen. An einiges erinnerte sie sich detailliert, an anderes kaum.
Manchmal dauerte es Tage, bis sie eine Szene oder ein Gesicht identifizieren konnte. Das waren dann echte Siege. Triumphierend und erschöpft lag sie anschließend im Bett.
Die Polizisten waren beeindruckt gewesen, wie detailliert Carole ihnen das Attentat beschreiben konnte. Immerhin hatte es anfangs geheißen, sie leide unter vollständiger Amnesie. Und viele der anderen Überlebenden des Tunnelanschlags erinnerten sich an weitaus weniger. Sie hatten nun mal nicht darauf geachtet, was in dem Tunnel geschah, sondern sich vielleicht unterhalten oder Radio gehört.
Möglicherweise war der Schock auch so groß, dass sie das Erlebnis verdrängten. Seit Wochen befragten die Polizisten alle Überlebenden. Außerdem war eine spezielle Meldestelle eingerichtet worden, an die sich Augenzeugen wenden konnten. Aber bisher hatten sie auf der Stelle getreten. Erst Carole hatte Licht in die Angelegenheit gebracht.
Nach dem Mordanschlag auf sie wurden zusätzliche Beamte zu ihrer Sicherheit im Krankenhaus abgestellt. Zwei Beamte der CRS, einer Sondereinsatzgruppe der Polizei, standen in dunklen Overalls und schweren Stiefeln draußen vor ihrer Zimmertür. Es waren keinerlei Erklärungen nötig, wer diese Männer waren – ihre Maschinenpistolen sagten alles. Die CRS war die gefürchtetste Einheit in Paris, sie wurde bei Demonstrationen und zur Terrorismusbekämpfung eingesetzt. Die Anwesenheit dieser Männer zeigte, wie ernst die Angelegenheit genommen wurde.
Aber all das waren reine Vorsichtsmaßnahmen. Soweit man es sagen konnte, waren alle am Tunnelanschlag beteiligten Attentäter tot, mit Ausnahme des Jungen. Carole erinnerte sich haargenau daran, wie er damals weggelaufen war, kurz bevor die erste Bombe explodierte. Über die anderen Männer konnte sie nicht viel sagen, weil sie kurz darauf selbst aus dem Wagen geschleudert wurde. Als Augenzeugin konnte sie also niemandem mehr gefährlich werden, aber die Terroristengruppe hätte es sicherlich als zusätzlichen
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