Steh zu dir
an der Zeit. Ich habe meinem Land lange gedient und meine Arbeit getan. Meine Amtszeit war vorbei, und es fand ein Regierungswechsel statt. Außerdem hatte ich gesundheitliche Probleme, die möglicherweise mit dem Job zusammenhingen. Jetzt geht es mir aber wieder gut. Anfangs habe ich die Arbeit fürchterlich vermisst. Mir wurden als symbolische Geste verschiedene kleinere Posten angeboten, aber ich habe abgelehnt. Ich wollte keinen Trostpreis. Es gefällt mir, wieder als Anwalt zu arbeiten. Ich bin schon ein paar Mal gefragt worden, ob ich nicht Lust hätte, einen Posten als Richter zu übernehmen. Aber das finde ich langweilig. Die Arbeit als Anwalt ist spannender. Außerdem überlege ich, mich noch in diesem Jahr ganz zur Ruhe zu setzen.«
»Warum?« Sie sah ihn besorgt an. Er war ein Mann, der das Arbeiten brauchte. Mit achtundsechzig verströmte er die Energie und Tatkraft eines jungen Mannes. Das war ihr sofort aufgefallen, als er bei der Befragung zuhörte. Er hatte wie elektrisiert gewirkt. Für jemanden wie ihn konnte es nicht gesund sein, sich ganz aus dem Berufsleben zurückzuziehen.
»Ich werde langsam alt. Höchste Zeit, andere Dinge zu tun. Lesen, schreiben, reisen, nachdenken, neue Welten erforschen. Ich möchte eine Weile durch Südostasien reisen.« Im Jahr zuvor war er in Afrika gewesen. »Ich möchte alles ein bisschen langsamer angehen und mehr genießen – bevor es zu spät dafür ist.«
»Du hast bestimmt noch viele Jahre vor dir, um das zu tun. Du bist schließlich ein vitaler, jugendlich wirkender Mann.«
Er lachte über ihre Wortwahl. »Ja, jugendlich, aber nicht jung. Das ist der Unterschied. Ich möchte mein Leben genießen und die Freiheit, die ich nie zuvor hatte. Ich muss niemandem mehr Rechenschaft ablegen. Das hat seine Vorteile – und auch eine Kehrseite. Meine Kinder sind erwachsen, selbst meine Enkelkinder sind schon groß.« Es war nur schwer vorstellbar, aber Carole sah ein, dass er recht hatte. »Arlette ist nicht mehr da. Es interessiert niemanden, wo ich bin oder was ich tue. Im Grunde ist das traurig, aber es entspricht nun mal der Wahrheit. Also sollte ich einfach das Beste aus meiner Situation machen, bevor meine Kinder anfangen, regelmäßig meine Haushälterin anzurufen und zu fragen, ob ich meine Suppe brav gegessen oder ins Bett gemacht habe.«
Davon war er noch Lichtjahre entfernt, aber das Bild, was er von sich entwarf, rührte Carole. Im Grunde steckte sie in einer ähnlichen Situation, obwohl ihre Kinder um einiges jünger waren als seine. Sein ältester Sohn musste Ende vierzig sein, nicht viel jünger als sie selbst. Matthieu hatte jung geheiratet und früh Kinder bekommen. Aber auch ihre Kinder hatten bereits das College hinter sich und lebten in anderen Städten. Ohne Stevie wäre es bei ihr zu Hause still wie in einer Gruft. Es gab keinen Mann in Caroles Leben, niemanden, dem sie erklären musste, wie sie ihre Zeit verbrachte, oder den es interessierte, wann und ob sie überhaupt zu Abend aß. Obwohl sie fast zwanzig Jahre jünger war als Matthieu, war sie genauso frei und ungebunden wie er. Deshalb war sie schließlich auch auf die Idee gekommen, das Buch zu schreiben und durch Europa zu reisen.
»Und was ist mit dir?« Sie sah ihm an, dass ihn dieselben Fragen bewegten wie sie. »Du hast schon lange keinen Film mehr gedreht. Das weiß ich, weil ich alle gesehen habe.« Er lächelte. In einem dunklen Kino zu sitzen, ihr Gesicht zu sehen und ihre Stimme zu hören – das hatte er sich gegönnt. Manche ihrer Filme hatte er drei- oder viermal gesehen. Und wenn sie dann im Fernsehen liefen, hatte er sie erneut angeschaut. Seine Frau hatte nie etwas gesagt und schweigend den Raum verlassen, wenn Caroles Gesicht auf dem Bildschirm erschien. Sie wusste, wie sehr er diese Frau liebte. Aber sie sprachen nie darüber. Sie akzeptierte diese Liebe und war zufrieden mit dem Respekt, den er ihr entgegenbrachte. Seine Gefühle für Carole entsprangen der Leidenschaft, dem Verlangen, Träumen und Hoffnungen. Die Träume hatte er verloren, aber nicht die Hoffnung oder die Liebe. Die waren in seinem Herzen geborgen wie ein seltenes kostbares Juwel in einem Safe, außer Sicht und Gefahr.
Während sie in diesem Krankenhauszimmer saßen und miteinander redeten, spürte Carole all die Gefühle, die er für sie hegte. Der Raum war erfüllt von Unausgesprochenem.
»Die Drehbücher der letzten Jahre haben mir nicht gefallen. Ich möchte nicht irgendeine alberne Rolle
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