Steh zu dir
erloschen war. Aber sie mochte ihn nicht danach fragen.
Manche Türen blieben besser für immer geschlossen. Was dahinter lag, war für sie beide zu schmerzhaft.
Jetzt atmete sie einmal tief durch, ließ sich aufs Kissen fallen. »Puh, das war anstrengend«, sagte sie. Matthieu nickte.
»Du hast das sehr gut gemacht.« Er war stolz auf sie. Carole hatte sich bemüht, präzise und klar zu antworten und jedes scheinbar noch so unwichtige Detail aus ihrer Erinnerung hervorzukramen. Sie war beeindruckend gewesen, was ihn nicht überraschte. Carole war schon immer eine bemerkenswerte Frau. Nicht nur, als seine Tochter damals starb, sondern auch in unzähligen anderen Situationen hatte sie ihm das bewiesen und ihn nie enttäuscht. Wieder und wieder hatte er diese Situationen in seinem Kopf durchgespielt. Seit fünfzehn Jahren wurde er von ihrem Gesicht und ihrer Stimme förmlich heimgesucht. Er hatte nie vergessen, wie sie sich anfühlte, fünfzehn Jahre lang. Und jetzt saß er neben ihr, es war schier unglaublich.
»Hattest du vorher mit ihnen gesprochen?«, fragte Carole neugierig. Die Polizisten waren ihr gegenüber freundlich und höflich gewesen, obwohl sie unablässig nach Details fragten. Carole war durch den Kopf gegangen, ob sie es Matthieu zu verdanken hatte, dass die Beamten so rücksichtsvoll vorgingen.
»Ich habe gestern Abend mit dem Innenminister telefoniert«, bestätigte er ihre Vermutung. So wie früher hielt er die Fäden in der Hand.
»Danke«, sagte Carole und lächelte ihn an. Sie wusste, dass eine solche Befragung durchaus ruppiger ausfallen konnte. Aber dank Matthieu hatte man sie mit Samthandschuhen angefasst.
»Vermisst du deinen alten Job?« Es schien ihr naheliegend. Wenn man lange Zeit so mächtig gewesen war wie er, stellte sie es sich schwer vor, plötzlich darauf verzichten zu müssen. Er hatte sich bei seiner Arbeit entfalten können und seine Aufgabe geradezu spielerisch gemeistert. Deshalb hatte er seinen Posten auch nicht verlassen können. Nach seiner Überzeugung lag das Wohlergehen Frankreichs in seinen Händen. Das Wohlergehen des Landes, das er liebte. »Ma patrie«, hatte er es oft genannt, voller Leidenschaft für seine Heimat und ihre Menschen. Das hatte sich vermutlich kaum geändert, auch wenn er sich aus der Politik zurückgezogen hatte.
»Manchmal vermisse ich meinen Job tatsächlich«, gab er ehrlich zu. »Es ist schwer, eine große Verantwortung einfach aufzugeben. Aber die Zeiten haben sich geändert. Der Job ist härter geworden. Als ich damals im Amt war, wusste man, wer die bösen Buben sind. Heutzutage sind sie gesichtslos. Man ahnt nichts von ihnen, bis das Unglück passiert ist – so wie bei dir. Das macht es verdammt schwer, Land und Leute zu schützen. Viele sind deshalb verbittert und desillusioniert. Ein Held zu sein ist nicht mehr leicht. Die Menschen sind wütend auf jeden, nicht nur auf ihre Feinde, sondern auch auf die eigene Regierung.« Er seufzte. »Ich beneide niemanden, der jetzt einen Posten in der Regierung hat, und doch fehlt es mir.« Er schenkte Carole eines seiner seltenen Lächeln. »Welchem Mann ginge es nicht so?«
»Ich weiß noch, wie sehr du deine Arbeit geliebt hast«, sagte Carole freundlich. »Du hattest nie Feierabend und wurdest sogar mitten in der Nacht angerufen.« Er hatte es so gewollt. Matthieu musste bei allem immer auf dem neuesten Stand sein. In dieser Hinsicht war er geradezu besessen.
Auch an diesem Morgen hatte er in ihrem Zimmer gestanden und die Befragung mitverfolgt, als wäre er noch im Amt. Manchmal vergaß er, dass diese Zeiten endgültig vorbei waren. Von der Öffentlichkeit und seinen Nachfolgern wurde ihm viel Respekt entgegengebracht. Er bezog zu allem Stellung und wurde oft zitiert. Auch nach dem Anschlag auf den Tunnel hatte man ihn angerufen, um sich Rat zu holen, wie in der Angelegenheit vorzugehen sei. Er hatte äußerst diplomatisch geantwortet, was er durchaus nicht immer tat. Wenn er sich über etwas aufregte oder die Regierung kritisierte, nahm er kein Blatt vor den Mund.
»Frankreich war immer meine große Liebe«, antwortete er. »Bis ich dir begegnete«, fügte er leise hinzu. Carole war jedoch nicht sicher, ob das stimmte. So, wie sie es sah, hatte sie immer an dritter Stelle gestanden – hinter seinem Land und seiner Ehe.
»Warum hat du dein Amt niedergelegt?«, fragte sie und griff nach dem Teebecher. Dieses Mal hielt sie ihn selbst, da sie sich allmählich entspannte.
»Ich fand, es war
Weitere Kostenlose Bücher