Stehaufmaennchen
1977
Ich könnte den Brief natürlich einfach aufmachen. Versehentlich. Über Wasserdampf. Das kann man in vielen Romanen lesen. Wasman in den Romanen nicht liest, ist die Tatsache, dass man sich im Umgang mit Wasserdampf sehr leicht schwere Verbrühungen zuziehen kann. Im Übrigen scheinen die Autoren dieser Romane noch nie Post von meiner Schule bekommen zu haben. Denn der Umschlag weigert sich standhaft, seinen Inhalt preiszugeben. Noch nicht mal ein Fitzelchen löst sich ab. Was man wegen der Verbrühungen von meiner Haut nicht behaupten kann.
22. Juni 1977
Geniale Idee! Gehe ins Sekretariat meiner Schule.
»Also, meine Eltern ... die haben da so einen Brief bekommen.«
»Ja. Und?«
»Nun ist es so, dass meine Eltern beide sehr kurzsichtig sind und den Brief gar nicht lesen können.«
»Ja. Und?«
»Vielleicht könnten Sie mir ja sagen, was drin steht, dann kann ich es meinen Eltern erzählen.«
»Warum liest du deinen Eltern den Brief nicht einfach vor?«
Mist! Daran hatte ich überhaupt nicht gedacht! Ganz schön ausgebufft, die Tante aus dem Sekretariat.
»Ähm ... Meine Eltern haben den Brief irrtümlich weggeworfen. Hielten ihn für Werbung. Wegen kurzsichtig und so.«
»Dann schicken wir den Brief eben noch mal. Sicherheitshalber per Einschreiben. Dann merken deine Eltern auch direkt, dass es sich nicht um Werbung handelt. Sonst noch was?«
»Ähm ... nein.«
Gehe raus. Im Gang gebe ich mir zum ersten Mal im Leben selber eine Ohrfeige.
23. Juni 1977
Liege im Treppenhaus auf der Lauer, um den Briefträger abzupassen. Kein Brief.
24. Juni 1977
Kein Brief.
25. Juni 1977
Immer noch kein Brief. Ob die den vergessen haben?
26. Juni 1977
Auf der Lauer zu liegen ist langweilig. Denke an Brigitte Bardot. Schließe die Augen. Da ist sie wieder! Sie kommt auf mich zu. Nackt, wie beim letzten Mal. Sie sagt:
»MARKUS!«
Reiße die Augen auf.
»MARKUS!«
Mama ruft! Hört sich nicht gut an. Renne nach oben. Unterwegs kommt mir der Briefträger entgegen. Schöne Scheiße! Dann kommt mir Mama entgegen. Sie hat einen Brief in der Hand. DEN Brief. Offen.
27. Juni 1977
In dem Brief stand, dass ich von der Schule geflogen bin. Hab‘s geahnt. Kein Wort von Brigitte Bardot. Riesendonnerwetter zuhause. Stubenarrest. In den großen Ferien! Aber es kam noch ein zweiter Brief. Ein Brief von der Post. Die Telefonrechnung. 142 Mark! Ein Grund mehr, mich nach meinem ersten Job umzusehen ...
21. Der Ernst des Lebens
8. August 1977
Habe ein interessantes Buch gelesen: Vom Tellerwäscher zum Millionär . Von einem Amerikaner. Die wissen halt, wie es geht. Brauche nur einen Job als Tellerwäscher, und in einem Jahr bin ich Millionär und kaufe mir meine erste Südseeinsel. Denke nach, welchen Namen sie bekommen soll.
10. August 1977
Geschafft! Arbeite als Tellerwäscher in Brankos Serbogrill. Neben mir spült Sven. Sven will eigentlich Boxer werden, aber Millionär ist auch okay, sagt er. Wir geben alles und schuften den ganzen Tag, um den schwarzen Belag von den Pfannen zu scheuern. Nach Feierabend zieht Branko uns hundert Mark vom Lohn ab. Er meint, das waren Teflon-Pfannen. Ich ziehe Bilanz. 28 Mark verdient. Abzüglich hundert Mark. Macht ein Minus von 72 Mark. Ich bekomme eine Ahnung vom amerikanischen Wirtschaftssystem.
11. August 1977
Mama meint, Pfannen lassen sich schonender spülen, wenn man sie vorher einweicht. Versuche es mit Opas Corega Tabs. Damit er den Verlust nicht bemerkt, tausch ich sie gegen Klosteine aus. Habe nur teilweise Erfolg. Das Geschirr und Opas Dritte bleiben dreckig, dafür riecht Opa jetzt immer lecker nach Zitrone aus dem Mund.
12. August 1977
Versuche den umgekehrten Weg. Brankos Pfannen werden jetzt mit Klosteinen behandelt. Funktioniert super. Alles geht runter. Auch das Teflon. Jetzt habe ich schon 116 Mark Minus.
13. August 1977
Habe gestern den Boxfilm Rocky gesehen und erzähle Sven, dass Rocky trainiert, indem er Schweinehälften verprügelt. Sven ist begeistert und wir beginnen sofort mit dem Training. Das Problem ist nur, dass es bei Branko keine Schweinehälften gibt. Nur Cevapcici. Wir hauen Brankos kompletten Vorrat platt. Später erfahren wir, dass ein Amerikaner mit platt gehauenen Cevapcici, die zwischen zwei Brötchenhälften pappen, Millionär wurde. Ronald Mc Donald! Branko will nicht Millionär werden und schmeißt uns raus. Meine Südseeinsel muss noch etwas warten. Aber einen Namen hab ich schon für sie: Papua Profitlich!
16. August 1977
Habe Glück. In
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