Steile Welt (German Edition)
noch die dauernden Bewohnerinnen und Bewohner im Tal, und die werden jedes Jahr weniger. Es sind nur noch vereinzelt Autos unterwegs, und das Postauto fährt auch nicht mehr so häufig. Meistens leer. Dann kommt manchmal schon eine etwas tötelige Stimmung auf. Wenn sich die Bergrücken dann noch mit Nebelschwaden zudecken und alles feucht wird, ist es manchmal schon schwierig, selber nicht auch dieser trüben Stimmung zu verfallen. Da taucht dann schon mal die Frage auf, ob man dies bis ins hohe Alter durchziehen will. Vielleicht ist unsere Zeit hier in diesem Dorf ja bald vorbei, und eine Veränderung täte einem gut. Ich meine, sobald der Jüngste mit seiner Lehre fertig ist, gibt es keinen äusseren Grund mehr, im Tessin zu bleiben. Wir könnten dann zurückkehren in die Deutschschweiz. Das beginnen wir uns jetzt schon so langsam zu überlegen. Ich stelle mir das dann vor, wieder «heim» zu gehen. Aber ob man dort, wo man herkommt, auch wieder daheim ist, wenn man so lange fort gewesen ist? Das lässt sich von hier aus schlecht sagen. Vermutlich wird es uns genauso ergehen wie den Tessiner Auswanderern, welche nach Jahren wieder hierher ins Tal zurückgekommen sind. Sie waren weder hier noch in der Fremde zu Hause. Und das ist ja eigentlich die schwierige Seite an diesem ganzen Unterwegssein: dass man am Ende gar nicht mehr weiss, wo man hingehört.»
So erzählt er also, an diesem nasskalten Nachmittag. Die Zeit vergeht, ohne dass die Türglocke auch nur ein einziges Mal bimmelt. Der Rucksack ist dann schnell gepackt. Und schon geht’s wieder hinaus in den strömenden Regen, dem Heim zu. Dem Heim auf Zeit. Man ist froh, in genau diesem Moment ziemlich sicher sagen zu können, wohin man gehört. Der Heimweg ist vorgegeben.
Auf diesem dann bekommt man aber plötzlich ein Problem. Es heisst Hund. Einen anderen Namen will man ihm beziehungsweise ihr – es ist eine wunderschöne schokoladenbraune, junge Hündin mit Bernsteinblick – nicht geben. Das erschwert nur das spätere Loslassen. Sorglos und mit flatternden Ohren rennt sie voran um die Kurven, schlenkert die Beine mit den noch zu grossen Pfoten, dass es nur so um sie spritzt, und verärgert die entgegenkommenden Autofahrer. Man selber erntet die bösen Blicke von den Vorbeifahrenden, Erklärungen sind nicht möglich. Wohl auch sinnlos. Denn die Hündin wartet immer, auf dass man sie wieder einhole. Wie könnte sie einem da nicht gehören. Daheim steckt sie ihre Schnauze durch den Türspalt, bekommt aber angesichts ihres tropfenden Zustands keinen Einlass. Dann ist sie auch schon wieder weg. Unten auf der Strasse wird sie von einer Autofahrerin erkannt und angehalten. Ob schonend, kann nicht festgestellt werden. Winselnd erwartet die schöne Hündin dann die Ankunft ihres Padrone. Sie ahnt wohl, dass dieser sie zu Hause wieder in ihren Verschlag zwingen wird. Schade eigentlich. Ihre wachen Augen versprechen weiterhin gute Gesellschaft. Doch von dem Gedanken muss man sich nun lösen. Von der Seite wird man angeschaut, und das nicht gerade freundlich, als man sich von dem Tier verabschiedet. Die Bewohnerin vom Nachbardorf scheint argwöhnisch. Ihr Blick ist gerade so, als hätte man den Hund einfach mitgehen lassen.
medeghèsc
Der Rücken ist heute steif, so verharrt man möglichst regungslos. Ebenso verhält es sich draussen. Als würde das Tal die Luft anhalten, um der Stille der Natur zu lauschen. Ein Tag in erdrückendem Schweigen. Selbst der Wind steht still. Die Wölkchen bleiben hängen, wo sie aufgestiegen sind.
Das Tal steht still und schweiget, und aus der Tiefe steiget der Leisheit Segen wunderbar.
Die Wespen stellen ihren Flugverkehr ein. Nur Schmetterlinge gaukeln durch die Luft, und Eidechsen huschen lautlos über die Steine. Ihr Ziel mir ebenso unklar wie ihr Lebenszweck. Der Bach verkneift sich für einmal das Rauschen, und die Autos scheuen die Talfahrt. Sogar die Uhr bleibt stehen und mit ihr das Pendel. Das unermüdliche Ticken verstummt. Ein zeitloser Moment absoluter Abwesenheit von Geräuschen. Wo lässt sich das noch finden.
Wo die Ruhe sich ausbreitet, geht keine Zeit verloren.
Endlich bricht der Müllwagen die Stille. Und mit ihm fällt scheppernd der Eichelhäher aus dem Nussbaum. Das Krähenpaar schliesst sich an und dreht plappernd eine Runde über den Dächern. Plötzlich wieder Leben. Schritte auf der Strasse und das Hupen des Postautos samt Echo.
Der Kater steht am Fenster. Gebannt blickt er nach draussen, seine Haare
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