Steile Welt (German Edition)
es jetzt ist, ist es für mich auch gut.»
Am Stammtisch, so weiss man selber, geht es immer sehr laut und feuchtfröhlich zu. Man kennt diese Tischrunden aus eigener Erfahrung, wenn man sich nach überstandener Wanderung ein Glas Erfrischung gönnt und nicht dazugehört, so allein, als Fremde, am Nebentisch sitzt. Da geht es hoch zu und her, wenn die Meinungen auseinandergehen. Und über andere wird da auch schon mal gespottet und gescherzt, oder zumindest beschleicht einen das Gefühl, wenn die Blicke eindeutig herüberschweifen und die Sprache unverständlich ist. Bei diesem Spiel hilft nur gute Miene.
«Dazu kommt natürlich noch die Sache mit der Sprache. Ohne Sprache keine Integration. Das war von Anfang an klar. Beim Dialekt aber, da hat es bei mir aufgehört. Da hatte ich keine Ambitionen, diesen sprechen zu lernen. Da reicht es mir, ihn zu verstehen. Ich gebe dann einfach auf Italienisch Antwort.
Meine Kinder, die sind ja mittlerweile alle aus der Schule, studieren oder machen eine Lehre. Sie kommen regelmässig nach Hause und schätzen es hier wieder sehr. Das war eine Zeit lang nicht mehr so. Viele der Familien mit den kleinen Kindern, welche wir bei unserer Ankunft noch angetroffen hatten, zogen mit der Schulpflicht ihrer Kinder weg von hier. Und so blieben wir mit unseren mehr oder weniger allein. Das hatten wir einerseits zu spät zu realisieren begonnen, und andererseits waren wir bereits zu sehr gebunden, um erneut anderswo zu beginnen. Das war ja nun aber überhaupt nicht mehr das, was wir gesucht hatten. Aber was wollten wir machen. Die Kinder, nun die einzigen in unserem Dorf, gingen mit dem Bus zur Schule, gemeinsam mit allen anderen Kindern des oberen Tals. Später dann, im Gymnasium, waren sie erstens als Talbewohner und zweitens als Deutschschweizer rechte Aussenseiter. Sie hatten keine Lust, die Aussteigerkinder zu sein. Diesem Status wirkten sie mit allen Kräften entgegen, mit Markenkleidern und Modefrisuren, Haarefärben und so Sachen. Mit allem, wogegen wir als Eltern uns zur Wehr gesetzt hatten und was wir ablehnten. Sie wollten so sein und aussehen wie die anderen Jugendlichen. Angepasst. Für sie war klar, dass sie so bald wie möglich aus dem Tal wegziehen und so werden wollten wie alle anderen. Ein in ihren Augen ganz «normales» Leben führen. Also anders als wir, ihre Mutter und ihr Vater. Heute hat sich das nun wieder etwas verändert. Und vielleicht gehörte diese Abgrenzung von uns und unserem Lebensstil ganz einfach zum Ablösungsprozess. Das kann man ja nie so genau sagen. Ich bin auf jeden Fall gespannt, für welche Lebensweise sie sich, wenn sie ganz selbständig geworden sind, entscheiden werden. Und wo es sie hinziehen wird, geografisch gesehen.
Wir haben immer noch viele Bekannte und Freunde in der Deutschschweiz, die uns regelmässig besuchen und hier auch ihre Ferien verbringen. So haben wir die wichtigen Kontakte zu unserem Ursprung nie ganz verloren. Natürlich hat man auch hier neue Freundschaften aufgebaut, das ist klar, aber man ist schon froh, dass man nicht alles aufgegeben hat, als man weggegangen ist. Denn wirklich enge Beziehungen zu den Ortsansässigen, oder sagen wir, echte Freundschaften, haben sich hier mit ganz wenigen Ausnahmen eigentlich keine entwickelt. Den näheren Kontakt und auch den Zugang hat man schon eher zu den anderen Deutschschweizern gefunden. Sie waren ja schliesslich in einer ähnlichen Situation wie man selber und kämpften mit den gleichen Schwierigkeiten. Das hat einen irgendwie fast automatisch miteinander verbunden.
Aus der Entfernung betrachtet, gehörte schon viel Mut und Optimismus dazu, wegzugehen und irgendwo anders neu anzufangen. Aber ich würde es wieder so machen. Oder ähnlich. Auch waren wir jung und voller Zuversicht, aber doch nicht mehr so naiv, um nicht zu wissen, worauf wir uns einliessen. Das Tal hier hatte uns dies schon erleichtert. Vielleicht gerade deshalb, weil wir nicht die einzigen waren, die hier einen Neubeginn wagten.
Um es an diesem Ort hier aushalten zu können, muss man schon sehr die Ruhe mögen und sich gerne zurückziehen. Im Sommer ist das Leben hier verhältnismässig unterhaltsam. Man ist viel draussen und läuft sich ständig über den Weg, die Leute sitzen auf der Piazza im Ristorante, und es entstehen Unterhaltungen, Reisende treffen mit dem Postauto ein, und Feriengäste kommen zum Einkaufen. Die warmen Temperaturen erledigen den Rest. Ende Oktober aber ändert sich alles. Dann sind nur
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