Steilufer
auf den sie sich sogleich sinken ließ. Sie starrte auf die Abbildung, ihr Gesicht war kreidebleich.
»C’est pas possible« flüsterte sie. »Das ist Said.«
Die beiden Beamten setzten sich zu ihr an den Tisch.
»Wer ist Said, Frau Floric?«, fragte Angermüller leise und vorsichtig. Bemüht, sich nichts anmerken zu lassen, vibrierte er innerlich vor Spannung.
Annas Augen waren in die Ferne gerichtet und sie schien nicht mehr an diesem Ort zu sein.
»Lionels Vater.«
Als Angermüller diese Erklärung hörte, fasste er sich unwillkürlich an den Kopf und fragte sich, wie er so blind hatte sein können. Wieso hatte er das nicht früher gesehen? Deshalb war ihm und wahrscheinlich auch manchem der dazu Befragten das Gesicht irgendwie bekannt vorgekommen. Der Mann auf der Abbildung hatte große Ähnlichkeit mit Anna Florics Sohn! Natürlich war er ein bisschen älter, die Haare waren kürzer und er hatte, im Gegensatz zu dem Jungen, ganz dunkle Augen – aber ansonsten sahen sich die beiden sehr ähnlich.
»Frau Floric, ich kann mir vorstellen, dass das jetzt sehr schlimm für Sie ist. Können Sie uns trotzdem etwas über den Vater von Lionel erzählen?«
Die junge Frau schien einen Moment zu brauchen, bis sie Angermüllers Frage verstanden hatte. Ihre Bewegungen waren langsam, als ob sie unter Schock stehen würde. Mechanisch drehte sie ihm ihren Kopf zu und nickte dann mehrfach, als ob sie sich selbst die Richtigkeit ihrer Entscheidung bestätigen wollte.
Und sie begann mit der Geschichte von Said, der vor 13 Jahren als Flüchtling aus Algerien in die Bretagne gekommen war, in einer Zeit, in der sie nach dem frühen Tod ihrer Mutter so sehr einen Menschen brauchte. Sie erzählte, wie sie sich Hals über Kopf in ihn verliebt hatte, in diesen trotz seiner Jugend so klugen und verständnisvollen Mann, der eine Fröhlichkeit und Lebenslust ausstrahlte, dass ihm alle Herzen zuflogen – bis auf die ihrer eigenen Familie. Sie schilderte Saids Freude, als sie ihm mitteilte, dass sie sein Kind erwartete und den stürmischen Tag damals im Herbst, als er eine Holzwiege für das Baby besorgen wollte und nicht zurückkehrte. Nie mehr zurückkehrte. Und sie beschrieb, wie Tage später ein gestohlenes Boot an der Küste gestrandet war, in dem sich Saids Jacke und Papiere befanden und alle Leute, bis hin zur Gendarmerie, glaubten, dass sich der junge Algerier aus dem Staub machen wollte.
Während Anna Floric erzählte, schrieb Jansen ab und zu etwas in sein kleines, schwarzes Notizbuch. Jetzt fragte er:
»Wie ist denn der Nachname von Lionels Vater?«
In ihrem Erzählfluss unterbrochen, sah sie ihn etwas irritiert an.
»Sein Name ist Messaoudi, Said Messaoudi. Und ich weiß, dass er das Kind und mich niemals im Stich gelassen hätte und genauso sicher weiß ich, dass er niemals allein mit einem Boot aufs Meer gefahren wäre. Er ist in der Sahara geboren und aufgewachsen und er fürchtete den Atlantik mit seinen gewaltigen Kräften.«
Angermüller sauste es in den Ohren. Was für eine Geschichte! Es konnte doch nicht sein, dass ein Mensch am Atlantik verschwand und seine Leiche 13 Jahre später in einem Schlauchboot an einem Strand der Lübecker Bucht auftauchte. Er sah verwirrt zu Jansen, der nur ratlos mit den Schultern zuckte. Der Kommissar wusste nicht weiter. Er erhob sich und Jansen tat es ihm gleich. Er wollte hier weg, erst einmal in aller Ruhe diese Informationen sortieren und verarbeiten.
»Ja, Frau Floric. Vielen Dank für ihre ausführliche Auskunft. Wir müssen uns jetzt verabschieden. Meinen Sie denn, wir können Sie jetzt hier allein lassen?«
Anna Floric war immer noch sehr blass, doch ihre Stimme klang schon wieder ein wenig fester.
»Es geht schon, danke. Ich habe vorhin gerade mit Yann telefoniert, da waren sie schon wieder im Hafen. Er und Lionel müssen eigentlich jede Minute hier auftauchen.«
»Wir können ja noch so lange warten, bis die beiden hier sind.«
»Danke, lassen Sie nur! Sie kommen bestimmt gleich.«
Die Beamten zögerten trotzdem, Anna Floric in dieser aufgewühlten Stimmung einfach so allein zurückzulassen. Etwas ungelenk und verlegen standen sie neben ihr im Wintergarten und lauschten dem Regen, der immer noch unablässig auf das Glasdach strömte.
»Bei so einem Wetter waren die beiden segeln? Respekt!«, sagte Angermüller, um die unangenehme Stille zu unterbrechen.
»Yann hatte Lionel schon die ganze Woche immer wieder vertröstet, weil irgendwas am Schiff nicht in
Weitere Kostenlose Bücher