Steilufer
in seinen Gliedern ausbreitete. Er stellte die Musik ab, löschte das Licht und ging leise ins obere Stockwerk. An der angelehnten Tür des Kinderzimmers lauschte er auf die regelmäßigen Atemzüge der Zwillinge, ging kurz ins Badezimmer und legte sich dann im Dunkeln in sein Bett. Astrid schnarchte leise und es dauerte gar nicht lange, da war auch Georg Angermüller eingeschlafen.
4
»Maman! Können wir heute draußen frühstücken?«, schallte es durch den Flur. Irritiert schaute Anna von ihrem Schreibtisch auf. Sie saß schon seit einer Stunde über Rechnungen und Kontoauszügen und war dabei, sich Argumente für den unangenehmen Besuch bei ihrer Bank zurechtzulegen. Einen Blick nach draußen und einen Gedanken an das Wetter hatte sie bisher nicht verschwendet.
»Viens, Lionel! Wir müssen doch nicht durchs ganze Haus schreien.«
Barfuß und atemlos kam ihr Sohn noch in seinem Schlafanzug angerannt, der Hund folgte auf dem Fuße.
»Guten Morgen, mein Schatz! Ist es nicht viel zu kalt, um draußen zu sitzen?«
»Es ist ganz toll draußen! Schau doch! Die Sonne scheint und heute kann ich mit Jakob endlich an den Strand! Ich muss ihn gleich anrufen!«
Lionels Begeisterung war nicht zu bremsen.
»Doucement, mon fils! Lass uns erst einmal den Wetterbericht hören.«
»Pah, Wetterbericht! Yann sagt auch immer, wozu Wetterbericht, wenn ich vor die Tür gehe, sehe ich doch, wie das Wetter ist!«
Anna schüttelte belustigt den Kopf – wie immer, wenn er etwas durchsetzen wollte, war der Junge um kein Argument verlegen. In seinen Ferien gönnte sie sich den Luxus eines gemütlichen gemeinsamen Frühstücks und einmal in der Woche unternahmen sie etwas Besonderes, da ein Urlaub in der Hochsaison einfach nicht infrage kam. Und bisher waren diese Ferien zu Hause wirklich nicht vom Wetter verwöhnt worden. Durchs Fenster sah sie einen lange vermissten, wolkenfreien Himmel. Sie konnte Lionels Ungeduld gut verstehen.
»Guten Morgen, ihr zwei! Lionel hat völlig recht: Der Sommer ist da, egal, was der Wetterbericht sagt und hier ein kleiner Vorgeschmack, Madame!«
Yann stand in der Tür und bot der überraschten Anna mit einer galanten Geste eine voll erblühte, gelborange Rose an, wie sie im Garten vor dem Restaurant wuchsen. Ein flüchtiges Lächeln huschte über ihr Gesicht, gleich darauf sagte sie energisch:
»Na gut, ihr wollt es so! Dann müsst ihr sofort einen windgeschützten Platz auf der Terrasse suchen, Tisch und Stühle rausstellen und den Tisch decken! Ich mache Frühstück und du ziehst dir vorher noch was an Lionel, klar?«
Über der Lübecker Bucht lag ein dunstiger Schleier, der Himmel wölbte sich endlos blau und die Sonne strahlte ungehindert auf den Frühstückstisch in der Ecke neben dem Wintergarten. Anna dehnte sich wohlig und spürte, wie sehr sie die Helligkeit und die Wärme vermisst hatte. Sie genoss diesen seltenen Moment des entspannten, harmonischen Zusammenseins mit den beiden wichtigsten Personen in ihrem Leben, wenn alle Zukunftsängste plötzlich ganz klein waren. Zufrieden schaute sie zu Lionel, der neben seinen unverzichtbaren Cornflakes noch ein dickes Stück Quatre Quarts mit Hagebuttenmarmelade verzehrte. Man konnte ihm diesen ebenso simplen wie schmackhaften Kuchen, der nach altem, bretonischen Rezept mit reichlich gesalzener Butter gebacken wurde, zu jeder Mahlzeit vorsetzen – er bekam nie genug davon. Als sie aufsah, blickte sie direkt in die Augen von Yann, der sie mit einem versonnenen Gesichtsausdruck betrachtete.
»Wenn es jetzt wirklich endlich Sommer wird, dann glaube ich, dass du magische Kräfte hast, Yann«, sagte sie schnell, um von ihrer Verlegenheit abzulenken.
»Ich mache keine leeren Versprechungen, Anna – du wirst sehen, ab jetzt wird alles gut.« Yann griff über den Tisch und nahm ihre Hand: »Der Sommer fängt an, das Geschäft wird boomen und zu uns kommt das große Glück.«
Lionel, der die ganze Zeit versunken seinen Quatre Quarts genossen hatte, schaute plötzlich aufmerksam von einem zum anderen. Vergeblich suchte Anna nach einer geistreichen Antwort, um die Stimmung, die auf einmal über ihnen lag und die auch Lionel nicht entgangen war, mit einer witzigen Bemerkung aufzulösen – es wollte ihr nichts einfallen. Aber das war auch gar nicht mehr nötig. In die friedliche Idylle schallten laute Stimmen von der Remise herüber, Yann ließ ihre Hand los und sie erhoben sich beide, um nach der Ursache des Aufruhrs zu schauen.
Das Gebäude
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