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Stein und Flöte

Stein und Flöte

Titel: Stein und Flöte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Bemmann
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noch einmal zu und sagte: »Bis auf bald, Liebste! Die Bäume werden dich schützen, bis ich komme.«
    »Die Bäume?« fragte Lauscher und schaute hinauf in die ebenmäßigen, mit roten Beerendolden behängten Kronen.
    »Weißt du das nicht?« sagte der Sanfte Flöter. »Ebereschen sind nicht nur freundlich zu Vögeln, sondern zu jeglichem Wesen, das bei ihnen Hilfe sucht. Alles, was böse ist, scheut den Schatten dieser Bäume.« Er legte die Hand an einen der flechtenbewachsenen Stämme, als verabschiede er sich von einem alten Freund, und wandte sich zum Gehen. Auf dem Rückweg sprachen sie nicht viel, und zu Hause legte sich der Sanfte Flöter bald zu Bett.
    Lauscher ging noch in die Küche, um nachzusehen, was er am nächsten Tag beim Eselwirt an Vorräten würde besorgen müssen. Er fand noch ein letztes Stück Brot und ein paar Äpfel für sein Nachtmahl und stieg dann in sein Zimmer hinauf. Erst konnte er lange Zeit nicht einschlafen. Er schaute von seinem Bett aus durch das Fenster in das Geäst der alten Linden, das sich schwarz vor dem mondhellen Himmel abhob. Dann und wann fuhr ein Windstoß in das welkende Laub, trieb ein paar Blätter gegen die Scheiben und wehte sie raschelnd auf dem Fensterbrett zusammen. Durch eine Lücke zwischen den Zweigen warf der Vollmond eine breite Lichtbahn bis auf den Boden der Stube, über die immer wieder die Schatten treibender Blätter taumelten. Und zwischen diesen gleitenden Schatten vermeinte Lauscher plötzlich eine Bewegung wahrzunehmen, die nicht zufällig schien, sondern langsam und stetig auf der schimmernden Lichtbahn voranschritt. Zunächst war es nur ein Schatten wie die anderen, doch dann hob sich immer deutlicher eine Gestalt ab, und je weiter sie auf ihrem Lichtweg hinaufstieg, desto deutlicher trat sie hervor, gewann an Körperlichkeit und bewegte sich mit seltsam vertrauten, tänzelnden Schritten, umflossen vom Licht des Mondes, auf ihrer Bahn weiter. In ihrer Hand blitzte etwas auf, als sie ihren Arm hob, und dann hörte Lauscher den Sanften Flöter auf seinem silbernen Instrument spielen.
    Er hätte später nicht zureichend beschreiben können, was er in dieser Nacht hörte. Er wußte nur noch, daß in dieser Flötenmelodie alles enthalten war, was das Leben seines Großvaters erfüllt hatte, Ereignisse, die er wiedererkannte, und noch mehr, von denen er nichts wußte. Er sah den jungen Flöter an Arnis Seite über die Steppe reiten, sah ihn in Urlas Stube stehen und jenes Lied spielen, das ihn in den Augen dieser schönen alten Frau versinken ließ, hörte das Rauschen des Braunen Flusses, den Schrei des Fischadlers und das Flöten der Wasseramsel, und all dieses Geschehen, diese vielfältige Welt aus Gestein, Pflanzen, Tieren und Menschen wogte in farbigen Wirbeln und ließ nach und nach eine Ordnung erkennen, die ihrer Bewegung zugrunde lag, ein ungeheures Ornament, das lebte, ständig seine Form wandelte und Neues aus sich heraus gebar zu wachsender Vielfalt, die doch diese Ordnung nicht sprengte. Lauscher war nicht länger Zuschauer dieses Vorgangs, sondern fühlte sich als Bestandteil dieses gewaltigen Spiels; er war einbezogen, doch nicht willenlos, denn er selbst entschied mit und wußte, daß aus jeder Bewegung seines Körpers, aus jedem Gedanken, der in seinem Hirn entstand, sich neue Möglichkeiten dieses Spiels entfalteten, und während dieses lebendig pulsierende Gefüge wuchs und wuchs und sich ausbreitete wie Wellenringe auf einem Gewässer, sah Lauscher noch immer seinen Großvater auf das Licht zuwandern, seine Gestalt wurde heller und heller, bis sie mit der strahlenden Helle verschmolz.
    Diese wärmende Helligkeit spürte er noch, als er am anderen Morgen erwachte, und sie erfüllte ihn mit Heiterkeit. Hatte er geträumt oder war der Großvater in der Nacht noch einmal in die Stube gegangen, um auf seiner Flöte zu spielen? Ihr Klang stand in seiner Erinnerung noch so klar und wirklich, daß Lauscher beschloß, seinen Großvater nach jener Melodie zu fragen, die mit Worten zu beschreiben ihm unmöglich schien. Er stand auf, zog sich an und ging hinunter zur Schlafkammer des Großvaters. Die Tür stand offen. Er trat ein und sah den Sanften Flöter auf seinem Bett liegen. Er ruhte ausgestreckt auf dem Rücken, die Flöte noch in den Händen, auf seinem Gesicht hatten sich die Runzeln des Alters geglättet und nur den Ausdruck ungetrübter Heiterkeit zurückgelassen. Aber Lauscher erkannte zugleich, daß sein Großvater in dieser Nacht

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