Stein und Flöte
blies auf einer Weidenflöte, die ich mir geschnitzt hatte. Die meisten Schäfer spielen Flöte, und wenn du einmal einen treffen solltest, der dies nicht tut, dann hat er wahrscheinlich seinen Beruf verfehlt. Weißt du, wenn man so allein unter dem weit ausgespannten Himmel sitzt, dann überkommt einen das Bedürfnis, diesen unendlichen Raum zwischen den Horizonten auszufüllen. Mit Reden ist das nicht zu schaffen. Erstens wirst du verrückt, wenn du anfängst, mit dir selber zu sprechen, und außerdem läßt das gesprochene Wort diese blaue Glocke aus Luft und Dunst, die sich über dir wölbt, zerspringen. Nein, du brauchst etwas weithin Schwingendes, dessen Klang sich in diese Rundung einfügt und sie zum Klingen bringt. Da schnitzt du dir eine Flöte und fängst an zu spielen.
So spielte ich damals vor mich hin und spürte, wie der Klang meiner Flöte den Horizont leise erbeben ließ. Die Glocke fing an zu summen, und dieses Summen schwoll an und stieg empor zum Scheitel des Himmels, bis es als dröhnender Akkord mein Bewußtsein ausfüllte. In diesem Augenblick sagte hinter mir jemand: ›Du kannst schön flöten, mein Söhnchen.‹
Zunächst war ich wütend über die Störung, die mein vorsichtig aufgebautes Klanggebäude zusammenbrechen ließ. Ich drehte mich um und sah einen alten Steinsucher, der offenbar von den Bergen herabgekommen war, angelockt vom Klang meiner Flöte. Er trug seine Ledertasche umgehängt und am Gürtel den spitzen Hammer seines Standes. Sein lederbraunes Gesicht war von zahllosen Lachfältchen zerknittert und schaute mich so freundlich an, daß ich meinen Zorn vergaß und ihn bat, sich neben mich zu setzen.
Ächzend nahm er an meiner Seite Platz, blickte mich eine Weile an und sagte dann: ›Macht dir das Schafehüten Spaß, Söhnchen?‹
›Spaß?‹ sagte ich. ›Mein Vater ist ein Schafhirte, und meine Vorfahren sind es wohl auch gewesen. Also hüte ich Schafe. Was soll ich anderes tun?‹
›Und das Flöten?‹ fragte er weiter, ›wie ist es damit?‹
Ich habe dir ja erzählt, wie es mir erging, wenn ich unter freiem Himmel saß und spielte. ›Ich kenne nichts Schöneres auf der Welt‹, sagte ich. ›Als du kamst, läutete der ganze weite Himmel in meinem Ohr.‹
›Ich weiß‹, sagte der Alte. ›Ich hab’s schon gehört. Du hast den Ton.‹ Dann zog er aus seiner Ledertasche eine silberne Flöte und legte sie mir in die Hände. ›Die ist für dich bestimmt‹, sagte er.
Ich betrachtete die Flöte und fand sie vollkommen. Als ich die Verzierung an ihrem Ende entdeckte, sagte ich: ›Sie ist glatt bis auf diesen fünffachen Ring. Was hat das zu bedeuten?‹
›Kannst du lesen, Söhnchen?‹ fragte der Alte.
Ich schüttelte den Kopf, denn damals hatte mir noch keiner das Geheimnis der Buchstaben erschlossen.
›Dann will ich dir vorsprechen, was dort geschrieben steht‹, sagte der Alte.
›Lausche dem Klang,
folge dem Ton,
doch übst du Zwang,
bringt mein Gesang
dir bösen Lohn.
Willst du dich daran halten?‹
Ich nickte nur, obwohl ich damals noch nicht ahnte, welche Bedeutung sich hinter diesen Worten verbarg. Die Flöte gefiel mir so gut, daß ich sie um nichts in der Welt mehr aus der Hand lassen wollte. Während wir dort saßen, sagte mir der Alte noch, unter welchen Bedingungen die Flöte weitergegeben werden dürfe, wenn ich des Flötens müde geworden sei, doch das habe ich dir ja schon beim Unterricht erzählt. ›Alles andere wirst du selber herausfinden müssen‹, sagte der Alte noch. Dann legte er mir seine Hand für einen Augenblick auf die Schulter, stand auf und ging. Ich blickte noch eine Zeitlang auf das silberne Rohr, das in meinen Händen schimmerte und jetzt mir gehören sollte. Als ich mich schließlich umdrehte, um dem Alten einen Gruß nachzuwinken, war er nicht mehr zu sehen. So bin ich zu meiner Flöte gekommen.«
»Hast du diesen Steinsucher noch einmal getroffen?« fragte Lauscher.
Der Sanfte Flöter schüttelte den Kopf. »Ich habe ihn nie wiedergesehen, obwohl ich mich noch oft im Gebirge aufgehalten und ihn dort sogar gesucht habe«, sagte er. »Es gab noch viele Dinge, die ich ihn hätte fragen wollen, aber es ist wohl so, daß man solche Antworten selber finden muß, auch wenn man sein ganzes Leben dazu braucht und dann noch lange nicht alles weiß.« Er schauerte zusammen und sagte dann: »Komm! Es wird kühl. Wir wollen nach Hause gehen.«
Er stützte sich auf Lauschers Schulter, als er aufstand, nickte dem Grabhügel
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