Stein und Flöte
daß seine Schulter von pelzig grünem Moos überwachsen war. Dieses Moos bedeckte auch die Oberseite seines Arms, der an der Seite herabhing, und ebenso die gekräuselten Wellen des langhaarigen Fells, das ihm über die Hüften zottelte, bis hinab zu jenem merkwürdigen Knick, in dem seine glattfelligen Beine nach hinten abgewinkelt waren, ehe sie unten in gespaltenen Hufen endeten. Er starrte auf diese klobigen Bocksfüße, die eingebettet waren in die Moospolster auf einer Felsplatte, unter der eine Quelle hervorsprudelte und sich zu einem kleinen, klaren Teich sammelte, auf dessen Grund glatte Kiesel lagen. So stand er bewegungslos im Wald verborgen, ein überwachsener Stein und Ruhesitz von Vögeln, hörte jeden Laut, das Rauschen im Laub, das helle Plätschern der Quelle, das Flöten der Vögel, das Knacken dürrer Zweige unter dem Tritt heimlicher Tiere, und er hörte auch von weither das Sirren des Windes im hohen Gras der Steppe, die sich irgendwo jenseits des Waldes ausbreitete bis hin zum fernen Gebirge, von dem tosend Gießbäche herabschäumten und polterndes Geröll mit sich rissen, während hoch oben über den Schrofen schreiend die Steinadler kreisten. Er lauschte auf den Zusammenklang dieser Vielfalt und vernahm aus der Mitte all dieser Geräusche und Klänge den Gesang eines Kindes, wußte nicht, kam es von weither oder aus der Nähe, dieses Lied, gesungen von einer Kinderstimme, die dennoch dunkel und voll tönte wie die Stimme einer Frau oder die tiefe Lage einer Flöte, und die Worte lauteten:
Haust einer im Wald,
weiß nicht wer,
Haust einer im Wald,
seine Haut ist von Stein,
sein Mund kann nicht schrein,
und sein Leib ist kalt,
als lebt’ er nicht mehr,
weiß nicht wer.
Steht einer im Moos,
weiß nicht wo.
Steht einer im Moos
und regt sich nicht
mit starrem Gesicht
und zottigem Schoß,
ist nicht traurig, nicht froh,
weiß nicht wo.
Wartet einer am Quell,
weiß nicht wann.
Wartet einer am Quell,
daß eine ihn weckt,
die Hand nach ihm streckt
und krault sein Fell
und löst seinen Bann,
weiß nicht wann.
Er hatte dieses Lied noch im Ohr, als er aus dem grünen Gestrüpp dieses Bildes auftauchte und seine Flöte absetzte. Rikka schaute ihn noch immer an und lächelte.
»Was war das für ein Wald?« fragte Lauscher, als könne er sicher sein, daß auch Rikka das gleiche gehört und gesehen hatte wie er. »Wer hat dieses Lied gesungen, und was hat es zu bedeuten?«
»Das ist für den Augenblick noch nicht wichtig«, sagte Rikka. »Du wirst es vergessen, wie du so vieles vergessen wirst. Aber du wirst dich daran erinnern, wenn die Zeit dazu gekommen ist. Was du vergißt, geht nicht verloren. Es schläft nur, um eines Tages wieder zu erwachen.«
»Aber ich weiß doch, was ich gehört und gesehen habe«, sagte Lauscher und versuchte sich zu erinnern. Doch da war nichts mehr zu finden als flimmerndes Gesprenkel von Grün, Blau und Violett, das allmählich verblaßte, eine Flötenstimme, die in der Ferne verklang. »Ich weiß es nicht mehr«, sagte er traurig; denn er wußte noch so viel, daß dieses Lied sehr schön gewesen war und voller Trost.
»Es wird wiederkommen, wenn du nicht mehr danach suchst«, sagte Rikka. »Aber das Flöten hast du gelernt, das weiß ich jetzt.«
Unterdessen trat Furro in die Stube und sagte: »Da hört man doch gleich, wo du in die Schule gegangen bist, Lauscher. Es ist gut zu wissen, daß der Sanfte Flöter einen Erben gefunden hat. Ich mußte das Hämmern sein lassen, als ich dieses Lied hörte, wenn es mir auch fremd und sonderbar schien. Aber es war wohl nicht für mich bestimmt.«
»Nein«, sagte Rikka, »es war für ihn selbst bestimmt.«
»Und du hast’s ihm wohl beigebracht?« sagte Furro lächelnd. »Hast ihn ein bißchen verzaubert mit deinen Zauberaugen?«
Lauscher errötete, als er das hörte, und dachte darüber nach, ob der Schmied noch lächeln würde, wenn er wüßte, daß er Rikka geküßt hatte. Aber Furro schien das alles nicht weiter ernst zu nehmen. Er klopfte Lauscher freundschaftlich auf die Schulter und sagte: »Steh nicht so betreten da! Bei Urlas Enkeltöchtern muß man immer auf dergleichen gefaßt sein. Das Eisen sitzt übrigens wieder fest, falls es je locker gewesen ist, und für meinen Teil hätte ich jetzt Lust auf ein Abendessen.«
Als sie satt waren, holte Furro einen Krug Wein aus dem Keller, und Lauscher berichtete von seiner Begegnung mit den Händlern Günli und Orri. »Die beiden waren auch bei mir«,
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