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Stein und Flöte

Stein und Flöte

Titel: Stein und Flöte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Bemmann
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wie Marionetten bewegten und mit erhobenen Armen in die Höhe sprangen, als wollten sie nach etwas greifen, das sie nicht erreichen konnten, aber doch immer wieder aufs neue zu packen suchten; er hörte ihr schrilles Jauchzen und Lachen, entlockte seiner Flöte immer wildere Läufe und Sprünge, berauscht vom Geschrei der Kinder und von seinem eigenen Spiel, und ließ die Puppen tanzen. Jede Bewegung ihrer kleinen Körper entsprang seinem Willen, er verfügte über Hunderte von Armen und Beinen und beherrschte sie bis in jede Regung der Finger und Zehen, spürte das kühle Gras unter seinen zahllosen nackten Sohlen und den Herbstwind, der zwischen seinen zahllosen Fingern hindurchstrich.
    Als er sich im Sattel umdrehte, um den kleinen Tänzern zuzuschauen, die hinter ihm zurückgeblieben waren, war er überrascht, wie weit die Stadt schon entfernt lag, und er sah auch, wie eben ein Trupp von Reitern aus dem Tor sprengte. Sie kommen ihre Kinder holen, dachte er; sie wollen mir meine Tänzer wegnehmen, meine vielen kleinen Füße und Hände. Er trieb die Kinder an und ließ sie schneller laufen, doch die Reiter kamen rasch näher, um ihm sein Spiel zu verderben. Konnten es diese traurigen Spießbürger nicht ertragen, ihre Kinder lustig über die Wiesen tanzen zu sehen? Er setzte seine Flöte ab und schrie: »Gönnt ihr denn euren Kindern keinen Spaß?«
    Er bekam keine Antwort. Vielleicht hatten die Reiter auch gar nicht verstanden, was er ihnen zugerufen hatte, weil sie noch nicht nahe genug hergekommen waren. Aber er sah zugleich, daß die Kinder, sobald sein Spiel verstummt war, hilflos über die Wiese taumelten, viele brachen zusammen und blieben reglos liegen, und er sah jetzt auch ihre blassen, erschöpften Gesichter und sah, wie der fiebrige Glanz in ihren Augen erlosch. Die wenigen Kinder, die sich noch schwankend auf den Beinen hielten, starrten ihn aus stumpfen Augen an, und Lauscher meinte in ihren Blicken sogar Abwehr, ja Angst zu erkennen. Da wendete er sein Pferd, hieb ihm die Sporen in die Weichen und preschte davon, gefolgt von dem Wutgeschrei der Männer, die jetzt nahe genug herangeritten waren, daß man ihre Stimmen hören konnte. Sie werden doch nicht wagen, Hand an den Gewaltigen Flöter zu legen, dachte Lauscher und blickte über die Schulter zurück. Doch die Reiter waren inzwischen abgestiegen und sammelten ihre Kinder ein, die in ihren bunten Kleidern auf den Wiesen lagen wie abgefallenes Herbstlaub nach einem Sturm.
    Lauscher ließ sein Pferd erst dann in Trab zurückfallen, als er außer Sichtweite der Dragloper Reiter war und sicher sein konnte, daß ihm keiner von ihnen folgte. Erst jetzt wurde ihm bewußt, daß er geflohen war wie einer, der sich vor der Übermacht fürchten muß, statt auch diesen Männern das Tanzen zu lehren. Oder war es die Angst in den Augen der Kinder gewesen, die ihn in die Flucht getrieben hatte? Solange er auf seiner Flöte gespielt hatte, waren sie mit ihm gelaufen, hatten ihm zugelacht, und er hatte sich eins gefühlt mit seinen tanzenden Kindern, die zu ihm aufblickten wie zu ihrem Herrn und Meister. Er versuchte, dieses Hochgefühl, diese Lust am gemeinsamen Spiel zurückzurufen, aber es wollte ihm nicht gelingen. Während er langsam weiter ritt, spürte er einen schalen Geschmack im Mund; es war ihm zumute, als sei er einer tiefen Beschämung ausgesetzt, die sein Gemüt verdüsterte, ohne daß er die Ursache dafür hätte nennen können.
    Am Vormittag des dritten Tages nach seinem Ausritt aus Draglop erreichte er das Nebelmoor. Er hatte es schon einmal von Norden nach Süden durchquert, als er noch mit Barlo unterwegs gewesen war; doch damals hatten sie Lagosch als Führer bei sich gehabt, der hier jeden Pfad kannte. Diesmal mußte er sich seinen Weg allein suchen, und zwar nach Osten auf Fraglund zu.
    Es war diesiges Spätherbstwetter an diesem Tag. Der schmale, selten benutzte Pfad führte durch dürftiges graubraunes Grasland, dann begann der Boden abzufallen, die Spur war noch ein Stück weit zwischen Riedgras und Heidepolstern zu verfolgen, um schließlich in den Nebelschwaden unterzutauchen, die zu dieser Jahreszeit das Moorgebiet bedeckten.
    »Nur wer den Verstand verlor,
    geht im Herbst durchs Nebelmoor«,
    hatte der Wirt in der Silbernen Harfe gemurmelt, als Lauscher ihn nach dem Weg gefragt hatte. »Ich würde so spät im Jahr nie einen Fuß dorthin setzen, aber ein Flöter wie du mag sich dergleichen schon zutrauen«, hatte er noch hinzugefügt

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