Stein und Flöte
Pferd an einen Pflock, der hier aus dem Boden ragte, und öffnete eine Tür in der Mauer. Im Türstock drehte er sich um, schaute Lauscher mit seinen ausdruckslosen leeren Augen an und sagte: »Steig ab und komm herein!« Seine Stimme klang flach und merkwürdig hoch und ließ nicht erkennen, ob diese Worte eine freundliche Einladung sein sollten oder aber der Befehl an einen eingebrachten Gefangenen.
Lauscher stieg ab und ging auf die Tür zu. Er erkannte jetzt, daß die bräunliche Mauer die Vorderwand eines Hauses bildete, dessen Dach sich vage in den Nebelschwaden abzeichnete. Während er eintrat, berührte er mit der Hand die Mauer und fand sie seltsam schwammig und vollgesogen mit Nässe. Sie bestand aus ebenmäßig ausgestochenen Torfziegeln, die man übereinandergesetzt hatte wie Mauersteine.
Der Fremde ging ihm voran und führte ihn in eine Stube, in der ein blasses, schattenloses Dämmerlicht herrschte, das von den feuchten Wänden auszugehen schien. Auch die übrige Einrichtung der Stube, ein paar Bänke und eine Art Tisch, bestanden aus nichts anderem als aufgestapelten Torfziegeln. Eine Feuerstelle war nicht vorhanden. Der Fremde setzte sich auf eine der Torfbänke und forderte Lauscher auf, ihm gegenüber Platz zu nehmen. »Sei willkommen in meiner Hütte, Lauscher!« sagte er, sobald sein Gast sich gesetzt hatte. Lauscher war erstaunt, daß man ihn hier mit Namen kannte. Er konnte den Fremden jetzt in Ruhe betrachten, hätte jedoch wenig zu sagen gewußt, wenn man ihn aufgefordert hätte, ihn zu beschreiben. Auch hier in der Stube wirkte alles an ihm grau; Haar, Augen und Gesicht waren von solch farbloser Beliebigkeit, daß man sie schon in dem Augenblick vergaß, in dem man die Augen abwendete. Auch seine Kleidung war grau, aber er schien außerordentlich große Sorgfalt auf sie zu verwenden. Das graue Halstuch war tadellos geknüpft, Rock und Hose saßen ohne ein Fältchen, die grauen Reitstiefel waren trotz des langen Rittes blank und makellos.
Lauscher hob den Blick und schaute dem Mann wieder ins Gesicht. »Woher kennst du mich?« fragte er. »Und wer bist du überhaupt?«
»Man nennt mich den Grauen«, sagte der Mann, »und daß ich dich kenne, braucht dich nicht zu wundern nach all dem Aufsehen, das du in Draglop hervorgerufen hast.«
»Sollte ich das nicht?« fragte Lauscher.
Der Graue zuckte gleichmütig mit den Schultern. »Das ist deine Sache«, sagte er. »Aber du wirst dir auf diese Weise kaum Freunde schaffen.«
»Wie meinst du das?« fragte Lauscher. »Waren die Kinder nicht meine Freunde, als sie mit mir aus der Stadt hinausgezogen sind?«
»Mag sein«, sagte der Graue. »Aber als es aus war mit deinem Spiel, hatten sie Angst vor dir. Du mußt immer gleich übertreiben und gebrauchst deine Flöte wie einen Knüppel oder eine Peitsche. Du spielst, weil du wütend bist oder weil dich die Lust danach überkommt. So lange du flötest, kannst du den anderen deinen Willen aufzwingen, aber sobald du aufhörst, ist auch deine Macht zu Ende. Niemand liebt es, unter Zwang handeln zu müssen.«
»So ist das nun einmal mit meiner Flöte«, sagte Lauscher. »Keiner kann sich ihrem Klang entziehen.«
»Kaum einer«, berichtigte der Graue. »Ich weiß das. Aber bisher reicht deine Macht nicht weiter als der Klang deiner Flöte. Genügt dir das? Du könntest auch lernen, sie so zu gebrauchen, daß jeder hinterher meint, aus eigenem Willen gehandelt zu haben, und erst dann wird deine Macht ohne Grenzen sein. Willst du erfahren, wie das ist?«
Lauscher hatte den Worten des Grauen interessiert zugehört. Hier war endlich jemand, der ihm erklären konnte, wie man mit einer solchen zauberkräftigen Flöte umging. Sein Großvater war dieser Frage ja stets ausgewichen. Er nickte eifrig und machte sich auf eine längere Belehrung gefaßt. Doch der Graue sagte nur: »Dann schau genau hin!«
Lauscher wollte noch fragen, wohin er schauen sollte, als die Torfziegelmauer vor seinen Augen sich aufhellte, als sei sie unversehens durchsichtig geworden. Aber es war kein nebelverhangenes Moor, in das er hinausblickte, sondern es war eine helle, übergrünte Landschaft mit grasigen Hängen, Buschwerk und Wäldchen, die den Horizont bis in blaue Ferne füllte. Und während er hinausschaute aus diesem Fenster, das kein Fenster war, träumte er den
Traum vom (fast) vollkommenen Flöten
Er ritt mitten hinein in diese Landschaft, trabte dahin zwischen duftenden Sommerwiesen und fand diese Gegend über die Maßen
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