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Stein und Flöte

Stein und Flöte

Titel: Stein und Flöte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Bemmann
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Brüller.
    »Arnis Stein?« sagte die Mutter. »Von diesem Kleinod hat mir mein Vater oft erzählt, als ich noch ein Kind war. Er sagte, es sei wohl dem Geheimnis dieses Steins zuzuschreiben, daß Arni mit allen Menschen in Frieden habe leben wollen, aber das sei wohl noch lange nicht alles, was dieser Stein unter seiner glatten Oberfläche verberge.«
    »Dann paßt er ja gut zu der Flöte deines sanften Vaters«, sagte der Große Brüller. »Wie kann einer als Mann leben, der solchen Träumen nachhängt?«
    Da legte seine Frau ihre Hand auf seinen Arm und sagte: »Ach, Lieber, kannst du dir nicht vorstellen, daß es außer deiner Art zu leben noch andere Möglichkeiten gibt?«
    »Du meinst wohl bessere Möglichkeiten«, sagte der Große Brüller knurrig.
    »Nein«, sagte seine Frau entschieden, »ich meine andere. Denn auch deine Art ist mir lieb.«
    Lauscher hörte diesem Gespräch zu und entdeckte zu seinem Erstaunen, daß seine Mutter bei all ihrer Zerbrechlichkeit mehr Kraft in sich hatte als dieser gewaltige, haarige Mann, dem sie eben mit ihren Worten seine Sicherheit zurückgegeben hatte. Der Große Brüllen fing unvermittelt an zu lachen. »Du bist wie dein Vater«, sagte er. »Auch mit dem konnte man nie richtig streiten.«
    An einem der folgenden Tage ging Lauscher morgens hinaus in den Garten. Er schlenderte über den Kiesweg um das große Blumenrondell, das jetzt für den Winter schon mit Fichtenzweigen abgedeckt war. Im Frühling würden hier die Pfingstrosen ihre dicken, kugelrunden Knospen treiben, aus denen sich wie durch Zauberei kohlkopfgroße purpurrote Blüten entfalteten. Während er sich das vorstellte, meinte er ihren herben Duft zu spüren.
    Als er das schlafende Blumenbeet zur Hälfte umschnitten hatte, blieb er vor dem Torbogen stehen, durch den man in den Obstgarten kam. Die dünnen, dornigen Zweige der Kletterrose, die das verwitterte Lattenwerk des Bogens überwucherten, hatten schon ihre Blätter verloren, nur an den Enden der Triebe saßen noch büschelweise die dunkelroten, verschrumpelten Hagebutten. Lauscher trat durch das Tor in den hinteren Teil des Gartens. Hier unter den ausgebreiteten knorrigen Ästen der Apfelbäume und den hochgereckten Stämmen der Birnen hatte er sich als Kind am liebsten aufgehalten. Damals war ihm dieser Garten unendlich groß erschienen, ein lichter Wald, zwischen dessen Stämmen man sich verlaufen konnte, und wenn man ihn schließlich durchschritten hatte und in die Nähe des Zauns kam, geriet man in ein wüstes Dickicht von aufschießenden Brennesseln, riesigen Dolden des Bärenklau und den handförmig gefiederten Blättern des Giersch, die einen merkwürdig würzigen Geschmack hatten, wenn man sie kaute. Manchmal hatte er sich mitten in diese grüne, wuchernde Wildnis hineingelegt, daß die rauhen Stengel hoch über seinen Kopf aufragten, und war sicher gewesen, daß keiner ihn hier finden würde.
    Heute jedoch kam ihm der Obstanger viel kleiner vor, als er ihn in Erinnerung hatte, ein umgrenzter, überschaubarer Bereich, den man mit wenigen Schritten durchmessen konnte. Er blickte hinauf in die Zweige, an denen vor dem blauen Herbsthimmel nur noch ein paar vereinzelte Blätter hingen, bräunlich-gelb und wellig verdorrt die der Apfelbäume, rot überflammt die glatten Birnenblätter. Das meiste Laub lag schon am Boden und ließ bei jedem Schritt seinen bitteren Geruch aufwölken. Lauscher lehnte sich an den rauhen Stamm eines Apfelbaums, schloß die Augen und gab sich den Einflüsterungen dieses strengen Herbstgeruchs hin. Dieser Geruch erschien ihm wirklicher als alles, was seit seiner Abreise von Fraglund geschehen war, wirklicher als die Nächte mit Gisa in Barleboog, als seine lange Reise mit Barlo und seine Lehre beim Sanften Flöter. Waren das nicht alles nur Geschichten, die sich einer ausgedacht hatte, Träume, die sich in nichts auflösten, wenn man sie zu fassen versuchte? Nur das war wirklich, was er hier und jetzt spürte: die schrundige Rinde des Apfelbaums unter seiner Hand, das welke Laub unter seinen Füßen, dessen Rascheln er hörte und dessen strenger, bitterer Geruch ihm eine Wirklichkeit wiederbrachte, die er verloren geglaubt hatte. Er war noch ein Kind, war in Sicherheit unter den Bäumen seines Gartens, wo keiner ihn finden konnte, und hier wollte er bleiben, denn hier gab es keine Schwierigkeiten, keine Verwirrungen. War das so? Oder gab es greifbare Beweise dafür, daß er doch nicht geträumt hatte? Er spürte den Beutel

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