Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stein und Flöte

Stein und Flöte

Titel: Stein und Flöte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Bemmann
Vom Netzwerk:
schon als Kind gern gemacht«, sagte sie. »Manchmal kommt es mir so vor, als seist du keine Stunde fortgewesen.«
    »Das dachte ich vorhin auch, als ich unter dem Apfelbaum stand«, sagte Lauscher. »Das abgefallene Laub roch genau so bitter wie in all den Jahren zuvor. Hier hat sich nichts geändert. Aber ich bin nicht mehr derselbe wie damals, als ich mich dort versteckt habe. Vielleicht habe ich mich nur vor mir selbst versteckt. Aber seit mir Arni seinen Stein gegeben hat, bin ich ständig auf der Suche danach, wer ich eigentlich bin. Eine Zeitlang war ich der Meinung, der Stein bringe mir nur Unglück.«
    Sie waren inzwischen bis an den Zaun herangekommen. Das wuchernde Unkraut war schon verdorrt, ein verfilztes Gewirr sparriger brauner Stengel und welker, strähniger Grasbüschel. Während sie am Zaun entlanggingen, sagte die Mutter: »So ähnlich mag es Arni anfangs auch gegangen sein. Deswegen ritt mein Vater damals, als er sich von Arni am Rand der Steppe verabschiedet hatte, geradewegs zu dem Platz, an dem der Pfad zu Urlas Hütte beginnt. Dort ließ er sein Maultier und das Packpferd, das ihm der Khan geschenkt hatte, und stieg hinauf ins Gebirge.
    Er traf Urla auf der Weide bei den Schafen an. Sie hieß ihn willkommen, führte ihn in ihre Hütte und nötigte ihn an ihren Tisch. Als mein Vater sie fragte, ob er mit ihr sprechen könne, winkte sie ab und sagte, daß sie sich freue, heute nicht allein essen zu müssen. Sie trug Brot auf, dazu ein Stück von ihrem Schafkäse und noch allerlei andere Sachen, die ich vergessen habe, obwohl mein Vater sie in allen Einzelheiten aufzuzählen wußte. Essen war für ihn eine wichtige Sache, aber das weißt du ja wahrscheinlich. Nachdem sie den Tisch gedeckt hatte, setzte sie sich zu ihm und sagte: ›Sei mein Gast, Flöter!‹
    Während des Essens sprachen sie nicht viel, wie es dortzulande Sitte ist; mein Vater lobte den Käse, und Urla bemerkte, daß mein Vater in seinen Bewegungen ein wenig von der Art der Beutereiter angenommen habe. Das sagte sie wohl zu dem Zeitpunkt, an dem er gesättigt war und jeden weiteren Bissen, den sie ihm anbot, entschieden ablehnte; denn sie fuhr fort: ›Man kann es dir ansehen, daß du ein ganzes Jahr in ihren Zelten gelebt hast, Flöter. Und nun hast du das Lager der Horde verlassen.‹ Sie stellte das einfach fest, ohne daß mein Vater etwas darüber erwähnt hätte.
    Er nahm ihre Worte als Aufforderung, nun die Sprache auf jene Dinge zu bringen, derentwegen er zu ihr gekommen war, und erzählte ihr, welche Ereignisse zu seiner Abreise geführt hatten. ›Du siehst‹, sagte er abschließend, ›als Flöter hätte ich auf die Dauer nicht bei den Beutereitern leben können, obwohl Arni und ich wirklich gute Freunde geworden sind. Zudem scheint mir, daß es ihm nicht viel anders geht: Immer wieder gerät er in Gegensatz zu den Sitten seines Volkes, wenn er dem Geheimnis seines Steins zu folgen versucht, und dennoch kann er sich dem Schrei der Horde nicht entziehen. Wolltest du mit deinem Geschenk erreichen, daß er ständig in diesem Zwiespalt leben muß?‹
    Als mein Vater mir das erzählte, fügte er hinzu, daß er nicht wisse, woher er damals den Mut zu dieser Frage genommen habe, aber er habe sie um seiner Freundschaft zu Arni willen stellen müssen. Urla habe jedoch nur gelächelt und ihn dann gefragt, ob es ihm lieber gewesen wäre, wenn Arni seinem Bruder geholfen hätte, am Braunen Fluß die Mädchen der Karpfenköpfe zusammenzutreiben.
    ›Dergleichen würde er nie tun!‹ sagte mein Vater ohne zu zögern. Urla nickte. ›Ich weiß‹, sagte sie. ›Es widerspricht seiner Natur. Er gehört nicht zu den Menschen, denen es Freude macht, anderen Gewalt anzutun. Auch ohne den Stein hätte es ihm widerstrebt, sich an Raub, Plünderung und Mord zu beteiligen, aber er hätte sich dafür selbst verachtet, daß er es nicht fertigbrachte, wie die Männer der Horde zu leben. Ich habe ihm den Stein gegeben, damit ihm bewußt wird, daß er das Recht hat, einen anderen Weg zu gehen. Seinen eigenen Weg. Es gehört zu den Eigenschaften des Steins, daß er einem hilft, so zu werden, wie man gern sein möchte.‹
    Mein Vater hatte gespannt zugehört. Dann sagte er ein wenig enttäuscht: ›Ist dies das ganze Geheimnis? Würde es nicht genügen, sich selbst zu befragen, um zum gleichen Ziel zu kommen? Wozu dann der Stein?‹
    Jetzt fing Urla wahrhaftig an zu lachen. ›Ach, Flöter‹, sagte sie, ›du bist noch sehr jung, daß du so etwas

Weitere Kostenlose Bücher