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Stein und Flöte

Stein und Flöte

Titel: Stein und Flöte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Bemmann
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gerechtfertigt zu sein. Er ertappte sich dabei, daß er seinen Vater beobachtete wie einen fremden Menschen. Wodurch hatte dieser sonst so unerschütterliche Mann auf solche Weise die Fassung verloren? Weil sich eine Rechtssache als nichtig erwiesen hatte? Das kam doch wohl öfter vor. Oder war er wütend darüber, daß ihn diese unerwartete Wendung der Dinge seiner Selbstsicherheit beraubt hatte? Ärgerte es ihn womöglich, daß er durch das Auftreten seines Sohnes unversehens an den Rand der Ereignisse gedrängt worden war? Der Große Brüller war in Lauschers Erinnerung bisher eine unangreifbare Gestalt gewesen, ein unerreichbares Vorbild von erdrückendem Gewicht, dem nachzueifern von vornherein aussichtslos schien, ein über allen Dingen stehender Richter, der unzweifelhaft stets im Recht war. Auch jetzt erschien ihm sein Vater noch immer übermäßig groß und gewaltig; auch jetzt ließ ihn die dröhnende Kraft der väterlichen Stimme erzittern; aber zugleich entdeckte er zum ersten Mal die Unvollkommenheit dieses grobschlächtigen Mannes und sah, daß dieser Wutausbruch nur einen Augenblick der Schwäche verbergen sollte. Der Große Brüller ließ es jedoch bei dieser Drohung bewenden, beruhigte sich wieder und sagte: »Dankt meinem Sohn, daß ihr ungeschoren davonkommt! Ich will die Freude über seine Rückkehr nicht durch ein Strafgericht trüben.«
    Die Bauern kamen dieser Aufforderung nach und beeilten sich, die Gerichtsstube zu verlassen. Tangli trat jetzt auf den Großen Brüller zu, verbeugte sich und sagte: »Wir danken dir für deinen gerechten Spruch, du stimmgewaltiger Wahrer des Rechts. Erlaubst du, daß wir jetzt unsere Reise fortsetzen?«
    »Ihr seid frei und könnt gehen, wohin ihr wollt«, sagte der Große Brüller, und man konnte ihm dabei anmerken, daß er froh sein würde, diese merkwürdigen Beutereiter-und-doch-keine-Beutereiter aus den Augen zu haben. Ehe sie den Raum verließen, verabschiedeten sich die drei Händler auch von Lauscher mit einer tiefen Verneigung. »Wirst du unseren bescheidenen Hütte die Ehre deines Besuches gönnen, wie Günli angekündigt hat?« fragte Tangli.
    »Das habe ich allerdings im Sinn«, sagte Lauscher. »Wenn der Winter vorüber ist, werde ich mich auf den Weg machen.«
    »Mit dem Frühling wird die Freude in unsere Hütten einziehen«, sagte Tangli. »Kennst du den Weg, der dich zu uns führt?«
    »Nicht genau«, sagte Lauscher. »Ich weiß nur, daß eure Ansiedlung am Rand der Steppe liegt und zwar an der Stelle, wo Arni seine Hütte baute.«
    »Das ist richtig«, sagte Tangli. »Erlaube einem schlichten Händler, daß er es wagt, dich über den Weg dorthin zu belehren.«
    »Ich bitte dich darum«, sagte Lauscher.
    »Du erweist mir eine große Ehre«, sagte Tangli. »Höre also: Hier in Fraglund treffen fünf Bäche zusammen wie die Finger einer Hand. Wähle den mittleren dieser Wasserläufe und folge ihm bis zur Quelle. Dort beginnt der Krummwald, durch den der kürzeste Weg zu Arnis Hütte führen würde. Dennoch solltest du diesen Wald nicht betreten, denn die verkrüppelten Baumtrolle hassen die Menschen wegen ihrer geraden, aufrechten Gestalt. Hüte dich also vor ihnen und wähle lieber den Umweg entlang des Jochs nach Norden, bis du einen schmalen Pfad findest, der dich über den Kamm und dann abwärts bis an den Rand der Steppe führt. Wenn du dich dort nordwärts wendest, wirst du nach etwa zwei Tagesritten Arnis Hütte erreichen.«
    Lauscher dankte ihm für die Unterweisung und bat ihn, Arnis Stellvertreter seine Grüße zu überbringen. Tangli nahm diesen Auftrag mit einer weiteren Verbeugung entgegen, und dann verließ auch er mit seinen beiden Begleitern die Gerichtsstube.
    Der Große Brüller atmete auf, als sie nach etlichen tiefen Bücklingen endlich draußen waren. »Diese Art von Höflichkeit macht mich ganz kribbelig«, sagte er. »Schon von Anfang an sind diese Händler um mich herumgeschwänzelt, daß ich nicht wußte, ob sie nur Angst hatten oder mich foppen wollten. Ist das ein Benehmen von Männern? Bei den Beutereitern wußte man wenigstens, woran man war. Ich kann mir nicht vorstellen, was du an diesen Leuten findest, Lauscher.«
    »Offenbar finden sie etwas an mir«, sagte Lauscher und steckte den Stein wieder in den Beutel.
    »Dein Stein scheint ihnen viel zu gelten«, sagte der Große Brüller, als wolle er klarstellen, daß der Grund für eine solche Wertschätzung keinesfalls in der Person seines Sohnes zu suchen sein könne.

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