Stein und Flöte
auf seiner Brust, das leichte und doch fühlbare Gewicht des Steins auf seiner nackten Haut. »Laß mich in Ruhe, Stein!« sagte er, aber der Stein war da, ein sanftes Zentnergewicht an seinem Hals, das sich nicht abschütteln ließ. Lauscher griff unter sein Hemd, nahm den Stein heraus und schaute ihn an. Auf seiner Oberfläche spiegelte sich, zu einem winzigen Ornament zusammengezogen, das Geäst des Apfelbaums, doch darunter flirrten die Farben bis hinab ins Bodenlose, blau, grün und violett, ein lebendig pulsierendes Auge, das ihn anblickte, aus dem jemand ihn anblickte. »Meinst du, Lauscher, du kannst noch zurückfliehen in deine Kindheit?« fragte die Frau mit dem schönen, alterslosen Gesicht. »Du bist nicht mehr der kleine Junge, der sich hier zwischen Gras und Kräutern versteckt hat, damit keiner ihn findet. Du bist längst gefunden worden, Lauscher. Weißt du das nicht?«
»Als Kind hast du dich auch immer hier versteckt«, sagte seine Mutter. Lauscher blickte auf und sah sie vor sich stehen. »Ist das Arnis Stein?« fragte sie und schaute auf das schimmernde Auge in Lauschers Hand.
»Ja«, sagte Lauscher. »Ich habe mich gerade mit ihm unterhalten.«
»Und was hat er gesagt?« fragte seine Mutter lächelnd.
»Daß ich mich hier nicht mehr verstecken kann wie ein Kind«, sagte Lauscher. »Und er hat recht gehabt: du hast mich gefunden.«
»Ein kluger Stein«, sagte seine Mutter. »Darf ich ihn einmal in die Hand nehmen?«
»Gern«, sagte Lauscher. Die Mutter formte aus ihren beiden Händen ein Nest, und Lauscher legte den Stein hinein. Da lag er nun wie ein geheimnisvolles Ei, umhegt von ihren warmen Händen. Sie schaute ihn aufmerksam an, als wolle sie ergründen, was sich unter seiner glatten, schimmernden Oberfläche verbarg. »Er ist sehr schön«, sagte sie nach einer Weile. »Man gerät immer tiefer in das Spiel seiner Farben. Es ist, als blickten einen alle die Augen an, die sich schon einmal in diesem Stein gespiegelt haben, deine Augen zuerst, Lauscher, und auch die meines Vaters; dann ist da ein blauer Schimmer wie von Saphiren im Stein gefangen, ein verlorenes Blau, das durch das grüne Dickicht flieht und sich immer wieder verbirgt wie ein Wolf im Gebüsch; und dieser dunkle, fast violette Glanz müssen Arnis Augen sein, die dunklen Augen eines Beutereiters, der diesem Stein so vertraute, daß er die Kraft fand, sich gegen alle seine Leute zu stellen, bis er starb und nur noch seine Augen innen in diesem Stein weiterlebten; und ganz tief unten leuchten, alle Farben in einem, die Augen Urlas, dieser schönen alten Frau, mit der die Geschichte dieses Steins begann. Oder ist es ein kleines Mädchen, das mich anschaut, ein Kind, das noch nichts weiß von all diesen Dingen und doch auf alles gefaßt ist, weil es die Welt mit Urlas Augen sieht? Ach, Lauscher, du kannst dich nicht verstecken vor diesen Blicken; du bist schon gefunden, auch wenn du dich noch sonstwohin verlieren wirst.«
»Werde ich das?« fragte Lauscher ungläubig; denn ihm schien, daß seine Mutter den Ablauf der Zeit durcheinanderbringe. Lag der Irrweg jetzt nicht endgültig hinter ihm? »Ich weiß, was mir dieser Stein einbringen wird«, sagte er, aber der Blick, mit dem seine Mutter ihn ansah, machte ihn doch unsicher.
»Weißt du das wirklich schon?« fragte sie. »Ich fürchte, das ist noch lange nicht alles, was du dir erhoffst.«
»Mir genügt einstweilen, daß ich den nächsten Schritt kenne«, sagte Lauscher.
Seine Mutter nickte. »So ist das wohl mit dem Stein, daß er einem nicht mehr zeigt, als man selbst sucht«, sagte sie. »Jedenfalls hat Urla es damals meinem Vater so erklärt.«
»Wann?« fragte Lauscher. »War das an dem Tag, als Arni den Stein bekam?«
»Nein«, sagte die Mutter. »Das war später, als er das Lager der Beutereiter schon verlassen hatte. Weißt du nicht, daß er Urla noch einmal besucht hat?« Und als Lauscher den Kopf schüttelte, sagte sie: »Komm, wir gehen ein bißchen durch den Garten, und ich erzähle dir währenddessen, was ich darüber weiß.«
Sie gab ihm den Stein zurück, und Lauscher verwahrte ihn wieder in dem Beutel auf seiner Brust. »Du hebst ihn an der richtigen Stelle auf«, sagte seine Mutter lächelnd. »Wenn er schon noch nicht deinen Verstand erreicht, dann liegt er doch wenigstens auf deinem Herzen.«
Was soll das nun wieder heißen? fragte sich Lauscher, während er neben seiner Mutter durch das raschelnde Laub unter den Obstbäumen schlurfte. »Das hast du
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