Stein und Flöte
Lauscher faßte diese Worte jedenfalls so auf und sagte schroffer, als es sonst seine Art war: »Sie vertrauen darauf, daß Arni mich zum Träger des Steins erwählt hat. Jedenfalls werde ich ihrer Einladung folgen.«
»Darüber zu reden hat wohl Zeit bis zum Frühling«, sagte der Große Brüller. »Du solltest nicht von Abreise sprechen, wenn du eben erst gekommen bist. Jetzt wollen wir zu deiner Mutter gehen. Sie hat lange genug auf dich gewartet.« Er packte seinen Sohn beim Arm und ging mit ihm aus der Gerichtsstube hinüber in den Wohnraum. Schon beim Eintreten rief er mit seiner dröhnenden Stimme: »Schau, wen ich dir da bringe!«
Lauschers Mutter saß am Fenster und blickte hinaus in den Garten hinter dem Haus. Sie fuhr erschreckt herum wie jemand, den man beim Nichtstun ertappt hat. Dann erkannte sie ihren Sohn. Das Nähzeug, das in ihrem Schoß gelegen hatte, fiel zu Boden, als sie aufsprang und auf Lauscher zulief. Sie schloß ihn in die Arme, und erst jetzt wurde ihm bewußt, daß er wieder zu Hause war. Er spürte ihre Tränen an seinem Hals und umfaßte gerührt und mit einiger Vorsicht die zerbrechlichen Schultern seiner Mutter. »Du mußt ja nicht gleich weinen!« brummte der Große Brüller, aber er wollte wohl nur die Rührung verbergen, die auch ihn jetzt überkam.
»Ich freue mich ja«, sagte die Mutter und drückte ihren Sohn noch einmal fest an sich. Dann gab sie ihn frei und schaute ihn an. »Du bist größer geworden«, sagte sie, und mit einem Lächeln setzte sie hinzu: »Kann auch sein, daß ich ein bißchen zusammengeschnurrt bin. Komm, setz dich zu mir und erzähle, wie es dir ergangen ist! Wann hast du meine Eltern zuletzt gesehen?«
Diese Frage hatte Lauscher gefürchtet, seit er das Zimmer betreten hatte. Er setzte sich seiner Mutter gegenüber ans Fenster und blickte ihr ins Gesicht. Zu seiner Überraschung merkte er am Ausdruck ihrer Augen, daß sie auf die Nachricht gefaßt war, die er ihr überbringen mußte, und verstand jetzt erst richtig, warum sie ihre Frage so formuliert hatte. So erzählte er ihr in aller Ausführlichkeit, wie er die Großeltern zum ersten Mal angetroffen hatte, wie es dann bei seinem zweiten Besuch gewesen war und wie er zuletzt den Sanften Flöter neben seiner Frau auf dem grünen Hügel unter den drei Ebereschen begraben hatte. Seine Mutter hörte zu, als habe sie das alles schon gewußt und wolle sich dieser Ereignisse nur noch einmal versichern. »Es ist gut, daß du bei ihnen gewesen bist«, sagte sie schließlich, »vor allem in den letzten Tagen, als mein Vater schon allein in seinem Haus war. Was ist aus seiner Flöte geworden? Hat er sie mit ins Grab genommen?«
»Nein«, sagte Lauscher. »Als ich zum zweiten Mal bei ihm war, hat er mir das Spielen beigebracht und mich am Tag vor seinem Tod zu seinem Erben eingesetzt. Ich bin jetzt ein Flöter.«
»Das hatte ich gehofft«, sagte seine Mutter. Der Blick, den sie bei diesen Worten ihrem Mann zuwarf, verriet, daß dieses Thema nicht zum ersten Mal zwischen ihnen zur Sprache kam, und Lauscher konnte sich auch den Grund dafür denken. Sein Vater hatte sich den Vorsatz, seinen Sohn zum Nachfolger im Richteramt heranzubilden, wohl noch immer nicht aus dem Kopf geschlagen. Der Große Brüller war kein Mensch, der dergleichen verbergen konnte, und so war seiner Miene jetzt deutlich die Enttäuschung anzumerken. »Bist du nun zufrieden?« fragte er seine Frau. Sie blickte ihn mit ihren ruhigen grauen Augen an und sagte: »Meinst du wirklich, es käme mir nur darauf an, in dieser Sache recht zu behalten? Hast du noch immer nicht begriffen, daß du Lauscher deine Art nicht aufzwingen kannst?«
»Ich werde mich wohl daran gewöhnen müssen, daß er andere Ziele verfolgt«, sagte der Große Brüller resigniert. »Er war kaum angekommen, als er schon wieder von Abreise sprach.«
Die Mutter blickte Lauscher erschrocken an. »Willst du nicht bleiben?« fragte sie, und Lauscher sah, wie sie sich zusammennahm, um nicht schon wieder in Tränen auszubrechen. Er schüttelte den Kopf und sagte beruhigend: »Das hat Zeit bis zum Frühjahr.« Während er zuschaute, wie die Betrübnis aus ihrem Gesicht schwand, erzählte er ihr, wie er zu dem Stein gekommen war und von der Einladung zu Arnis Leuten. Die Mutter hörte gespannt zu, und als er zu Ende gesprochen hatte, sagte sie voller Erstaunen: »Du hast also nicht nur die Flöte, sondern auch Arnis Stein!«
»Ist das etwas so Besonderes?« fragte der Große
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