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Stein und Flöte

Stein und Flöte

Titel: Stein und Flöte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Bemmann
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Bescheid, wenn du dich auf den Weg machen willst, damit ich dich für die Reise ausrüste.«
    Eine Woche später traf Lauscher seine Mutter dabei an, wie sie im Garten die Blumenbeete abdeckte. Die niedrigen Rosensträucher zeigten purpurrote Triebe, daneben stachen die dunkelgrünen Spieße schmaler Krokusblätter aus dem Boden, und in der Mitte des Rondells drängten sich, noch kraus und verkrümmt, die ersten blaßvioletten Blattsprossen der Pfingstrosen durch die abgefallenen braunen Nadeln der Fichtenzweige. »Jetzt ist der Frühling da«, sagte die Mutter, und Lauscher verstand die unausgesprochene Frage, die sich hinter dieser Feststellung verbarg. »Ja«, sagte er, »morgen werde ich mich auf die Reise zu Arnis Leuten machen.«
    »Nach allem, was du erzählt hast«, sagte seine Mutter, »wird man dich dort mit großen Ehren empfangen.«
    Die Art, in der sie ihn bei diesen Worten mit ihren grauen Augen nachdenklich ansah, machte Lauscher unsicher. »Stört dich das?« fragte er. Seine Mutter schüttelte lächelnd den Kopf. »Nein«, sagte sie, »natürlich nicht. Wie sollte es mich auch stören, wenn meinem Sohn solche Achtung entgegengebracht wird? Ich frage mich nur, wie du dich in die Stellung einfügen wirst, die man dir dort bietet.«
    »Wie meinst du das?« fragte Lauscher. »Ich werde der Erbe des Sanften Flöters sein und zugleich der Träger des Steins. Jedes für sich allein wäre für Arnis Leute schon Grund genug, mir eine hohe Stellung in ihrem Gemeinwesen einzuräumen.«
    »Ein Erbe wirst du allerdings sein«, sagte seine Mutter, »ein Erbe in doppeltem Sinn. Ich wüßte nur gern, was man von einem solchen Erben bei Arnis Leuten erwartet.«
    »Wenn ich Günli recht verstanden habe«, sagte Lauscher, »will man sich in diesem Erben der Bestätigung jener Männer versichern, die Stein und Flöte hinterlassen haben.«
    »Der Bestätigung?« sagte seine Mutter. »Was soll dadurch bestätigt werden?«
    »Daß man auf dem rechten Weg ist«, sagte Lauscher. »Es wird für manchen unter Arnis Leuten nicht leicht sein, nach der Großen Scheidung in vielen Dingen anders zu handeln, als er dies von Kindheit an gewohnt war. Wer noch unsicher ist, bedarf einer solchen Bestätigung, die in greifbaren Dingen Gestalt gewonnen hat wie in meinem Stein oder der Flöte.«
    »Das mag wohl sein«, sagte seine Mutter. »Aber es war nicht die Art Arnis und auch nicht die meines Vaters, andere Leute in dem zu bestätigen, was sie dachten und taten. Du solltest nicht vergessen, daß keiner seines Weges sicher sein kann. Auch du nicht, trotz allem, was man dir auferlegt hat.«
    Warum sagt sie ›auferlegt‹? dachte Lauscher. Das klang so, als habe man ihm mit den Gaben Arnis und des Sanften Flöters eine Last aufgebürdet, an der er schwer zu tragen haben würde. In dieser Hinsicht sah seine Mutter die Dinge wohl falsch, so wie Mütter sich oft unnötige Gedanken machen, wenn ihre Söhne eigene Wege gehen. »Mach dir keine Sorgen«, sagte er also. »Ich werde mein Bestes tun, um die Erwartungen zu erfüllen, die man bei Arnis Leuten in mich setzt.«
    »Daran zweifle ich nicht«, sagte seine Mutter, aber er sah in ihren Augen, daß sie noch andere, tiefere Zweifel hegte. Da nahm er sie in die Arme und sagte: »Ach, Mutter, traust du mir so wenig zu?«
    Er spürte, wie seine Mutter ihn fest an sich drückte, und hörte sie sagen: »Ich traue dir alles zu, Lauscher. Vergiß nicht, daß ich dich liebhaben werde, was auch immer du anstellen magst.« Dann löste sie sich aus seinen Armen und räumte die letzten Fichtenzweige von dem Beet. »Schau«, sagte sie dabei, »überall treibt es schon aus! Man kann sich kaum vorstellen, daß aus dem kümmerlichen Geknäuel dort eine prächtige Pfingstrose werden soll. Aber eines Tages wird sie sich in all ihrer Schönheit entfalten, so wie sie jedes Jahr geblüht hat.«
    Am Vormittag des nächsten Tages hatte Lauscher schon ein gutes Stück Wegs hinter sich gebracht. Damit er ausreichend Vorräte für den langen Ritt mitnehmen konnte, hatte ihm sein Vater ein Packpferd gegeben, ein sanftes, falbfarbenes Tier, das geduldig neben Schneefuß dahintrottete. Die Luft roch nach Frühling. Rechts und links des Weges standen in Büschen die leuchtendgelben Strahlensterne des Huflattich, und die Kätzchen an den Weidenruten waren dick wie Hummeln. Hie und da war auf den Feldern ein Bauer bei der Frühjahrsbestellung zu sehen. Der frisch aufgeworfene Boden glänzte braun und fett und dampfte

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