Stein und Flöte
unter der Sonne.
Die ersten drei Nächte verbrachte Lauscher in Bauernhäusern, wo man ihn als den Sohn des Gerichtsherrn bereitwillig aufnahm und reichlich bewirtete. Am vierten Tag machte er um die Mittagszeit in einem Dorf Halt und ließ sich von einer Bäuerin einen Becher Milch geben. Er folgte nicht ihrer Einladung in die Stube, sondern setzte sich vor der Tür auf die Holzbank, um sich von der Frühlingssonne wärmen zu lassen.
Die Bäuerin blieb bei ihm stehen und sagte: »Du hast eine lange Reise vor dir, nach den Vorräten auf deinem Packpferd zu schließen.«
»Ja«, sagte Lauscher, »eine lange Reise. Bis an den Rand der Steppe.«
Die Bäuerin blickte ihn erschrocken an. »Bis an den Rand der Steppe?« rief sie. »Fürchtest du dich nicht vor den Beutereitern, die dort ihr Unwesen treiben?«
»Nein«, sagte Lauscher. »Ich reite unter einem Schutz, dem selbst der Khan seine Achtung nicht verweigern wird«, und dachte dabei an den Stein, der auf seiner Brust ruhte; denn er meinte, daß Hunlis Schwur, den er vor Urla abgelegt hatte, auch für den Erben des Steins gelten müsse.
Das Gesicht der Bäuerin verriet ihre Zweifel. »Ich habe noch nie gehört«, sagte sie, »daß es irgendein Mittel gibt, um die Beutereiter von Raub und Mord abzuhalten. Du solltest dich nicht zu sicher fühlen. Es ist gefährlich, sich nicht zu fürchten, wenn man sich in Gefahr begibt.«
Lauscher lächelte über die Besorgnis der Frau. »Ich danke dir für diese Warnung«, sagte er, »denn ich weiß, daß du es gut meinst. Aber ich habe erfahren, daß sich in der Steppe die Dinge zu ändern beginnen.« Dann bedankte er sich auch noch für die Milch, stieg auf sein Pferd und ritt zum Dorf hinaus.
Je weiter er die Häuser hinter sich zurückließ, desto schmaler wurde der Weg. Mit den letzten Äckern verschwanden auch die tief in den weichen Boden eingeschnittenen Wagenspuren. Der wenig benutzte Pfad hielt sich an den Lauf des Mittelbaches, schnitt nur gelegentlich eine der weiten Windungen ab, in denen der Wasserlauf das flache Wiesental durchzog. Die von weißen und violetten Krokusblüten überstreuten grünen Hänge an den Talseiten wurden nach und nach steiler, auf ihren Kämmen streckten jetzt niedrige Büsche ihre noch kahlen Zweige in den blauen Frühlingshimmel. Lauscher trabte vergnügt dahin und freute sich an der sanften Lieblichkeit dieser Landschaft.
Gegen Abend wurde der Boden steinig. Das Gras wuchs hier nur noch spärlich, und der Bach rauschte, tief eingeschnitten, in schäumenden Kaskaden über grobes Geröll. Der Pfad begann am linken Talhang anzusteigen und war von Zeit zu Zeit durch Steinhaufen gekennzeichnet, damit man ihn auf dem wenig bewachsenen Gelände nicht verlor. Schließlich verengte sich das Tal. Der Bach rann glitzernd eine steile Schuttrinne herab, an deren oberen Ende sich das Buschwerk, das bisher die Höhenkämme gesäumt hatte, zu einem niedrigen Krummholzwald zusammenschloß. Der Pfad erreichte die Höhe und traf am Talende auf die Quelle des Mittelbaches, der hier am Waldrand unter einer breitästigen Eberesche sprudelnd in einem von moosüberwachsenen Geröllsteinen eingefaßten Becken entsprang. Über der kleinen, nahezu kreisrunden Wasserfläche wölbten sich die Zweige von Hartriegel und Pfaffenhütchen so dicht zu einem Dach zusammen, daß man trotz des noch fehlenden Laubes den Eindruck gewann, in eine Grotte einzutreten.
Lauscher ließ seine beiden Pferde trinken und schöpfte auch selbst von dem kristallklaren, eiskalten Quellwasser. Während er es aus der Schale seiner Hände schlürfte, sah er auf dem Grund des Beckens glatt abgeschliffene Kiesel liegen, weiße, die an den Rändern durchscheinend waren, bräunlich geäderte, grünlich gefleckte und wieder andere, die aus dem Mosaik vieler Farben zusammengesetzt waren. Auf allen hatten sich winzige Luftblasen abgesetzt, so daß sie aussahen wie in Perlen gefaßt. Lauscher hob einen eiförmigen Kiesel aus der Quelle und schaute ihn an. Die nasse Oberfläche schimmerte wie poliert, und darunter flirre ein vielfarbiges Gesprenkel, das zu leben schien, wenn man den Stein im Licht der untergehenden Sonne hin- und herwendete.
All dies zusammen, die perlende Quelle, das Netzwerk der deckenden Zweige und auch der farbenflimmernde Kiesel, weckte in Lauscher ein Gefühl der Vertrautheit, als sei er in ein bergendes Nest zurückgekehrt, das ihn in seinen Schutz nahm vor all den Widrigkeiten der verwirrenden Welt weit unter ihm in
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