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Stein und Flöte

Stein und Flöte

Titel: Stein und Flöte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Bemmann
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verfing sich sein Fuß in der zähen Schlinge einer Wurzel, und er stürzte zu Boden.
    »Jetzt ist er unser!« wisperte der Chor der Stimmen. Lauscher spürte, wie knotige Finger nach ihm griffen, doch sobald er mit der Rute um sich schlug, war er wieder frei. Er richtet sich auf, und jetzt sah er deutlich, wie rings im Kreis die buckligen Trolle dicht gedrängt um ihn standen. Nur zu der Eberesche hin klaffte noch eine Lücke, als scheue das verkrümmte Gelichter deren Nähe. Mit drei Sprüngen erreichte er das schützende Dach des Baumes und lehnte sich aufatmend an den Stamm, während draußen das Rascheln und Flüstern sich zu wütendem Zischen steigerte. »Ihr habt ihn entwischen lassen!« keifte einer, und ein anderer flüsterte: »Jetzt weiß er, daß er unter der Esche in Sicherheit ist.«
    Lauscher fragte sich, ob es das war, was ihn zu diesem Baum hingezogen hatte. Es schien also zu stimmen, was ihm der Sanfte Flöter damals am Grab der Großmutter gesagt hatte. »Dank für deinen Schutz, Baum!« sagte er. »Und verzeih bitte, daß ich dir einen Ast abgebrochen habe.« Die Eberesche schüttelte unter einem Windstoß ihre Zweige, als wolle sie zeigen, daß es ihr auf einen mehr oder weniger nicht ankomme. Zugleich erhob sich draußen wieder das Getuschel, schwoll an und klang jetzt nach Streit. »Rächt euch an seinen Gäulen!« kreischte eine dünne Stimme, und eine tiefere, die wie das Pfeifen des Windes in einem hohlen Baumstrunk heulte, antwortete: »Laß das! Weißt du nicht, daß wir keine Macht über sie haben? Tiere sind ohne Schuld. Nur Menschen können wir packen.« Dann flaute das Wispern und Rauschen wieder ab.
    Lauscher setzte sich an den Fuß des Baumstammes, hüllte sich in seine Decke und wartete. Aber alles blieb still. Die schorfige Rinde der Eberesche im Rücken, fühlte er sich einigermaßen in Sicherheit, und seinen Pferden würde wohl auch nichts geschehen. ›Tiere sind ohne Schuld‹, hatte die Stimme gesagt, und das hatte so geklungen, als habe da einer gesprochen, der diesem grausigen Volk Weisungen zu erteilen hatte. Über schuldlose Wesen hatte dieser nächtliche Spuk keine Gewalt, aber ihn selbst hatten die knorrigen Klauen gepackt, sobald er sich aus dem Schutz der Eberesche herausgewagt hatte. Welche Schuld war es, die ihn dem Zugriff dieser krummen Trolle ausgeliefert hatte? War noch immer nicht gesühnt, was er Barlo angetan hatte? Oder gab es da noch anderes, eine tiefere Schuld, die irgendwo im verborgenen lauerte wie ein Wurm, der heimlich im Inneren nagt, eine hungrige Made, die frißt und frißt, bis die glatte Haut des Bewußtseins nur noch eine leere Höhlung umspannt? ›Nur Menschen können wir packen‹ – das klang so, als sei kein Mensch frei von Schuld und damit angreifbar für jede Art solch scheußlicher Nachtgespenster.
    Unter dergleichen Gedanken verbrachte Lauscher den größten Teil der Nacht. Erst gegen Morgen fiel er in einen unruhigen Schlummer. Als der Schrei einer abstreichenden Elster ihn weckte, war es heller Tag. Mühsam richtete sich Lauscher aus der unbequemen Stellung auf, in der er die Nacht über an dem schützenden Stamm gelehnt hatte. Sein Rücken schmerzte. Die Decke war naß von Tau, und der Boden war überperlt von Feuchtigkeit. Ein paar Schritte weiter standen die beiden Pferde ruhig in der Morgensonne und grasten. Die knorrigen Buchenstämme kauerten alle wieder an Ort und Stelle und krallten ihre verkrümmten Wurzeln in den Boden, als hätten sie nie ihren Platz verlassen.
    Lauscher fragte sich, ob er das alles nur geträumt habe, aber als er zu seinen Pferden hinüberging, um sie loszubinden und aufzupacken, sah er, daß rings um die Eberesche das Gras wie von unzähligen Füßen niedergetrampelt war. Er gönnte sich kaum Zeit für ein Frühstück und nahm noch einen Schluck von Großvaters Vogelbeergeist, um die steifen Glieder aufzuwärmen. Dann ließ er seine Pferde trinken und ritt so schnell wie möglich weiter. Er verspürte keinerlei Lust, noch eine zweite Nacht im Krummwald zu verbringen.
    Der Weg folgte jetzt dem nur leicht abfallenden Tal bachabwärts, doch das Bild der Landschaft änderte sich zunächst kaum; noch immer waren die flachen Hänge zu beiden Seiten dicht mit dem unheimlichen Krummholz bestanden. Am Nachmittag begann Lauscher schon besorgt nach einer Eberesche auszuschauen, doch dann entdeckte er erleichtert, daß das Tal weiter vorn unvermittelt steil abfiel. Aus der Tiefe ragten die Wipfel hoher Bäume über

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