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Stein und Flöte

Stein und Flöte

Titel: Stein und Flöte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Bemmann
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merkte er, daß man nur müde genug sein mußte, um sich von dem gleichmäßigen Schritt eines Pferdes in Schlaf wiegen zu lassen. Und müde war er über die Maßen nach der letzten Nacht in der Gesellschaft heimtückischer Baumtrolle. Er spürte, daß der Wind sich gelegt hatte. Die Augen lagen ihm bleischwer in den Höhlen, und er war kaum imstande, sie offen zu halten, doch ehe ihm die Lider wieder zufielen, sah er weit voraus eine Bewegung auf der nächtlichen Steppe. Er versuchte, mit seinem Blick festzuhalten, was sich da regte, aber es wollte ihm nicht gelingen. Das Bild schwankte und glitt immer wieder aus seinem Blickfeld. Dennoch merkte er, daß dieses Ding ständig näher kam. Er wunderte sich, daß er es in dieser mondlosen Nacht überhaupt ausmachen konnte, aber jetzt sah er es deutlicher: Ein Reiter zottelte da auf ihn zu. Er saß, mit hängenden Schultern nach vorn geneigt, auf einem struppigen Steppengaul, und an seinen Schläfen baumelten Zöpfe, schneeweiße Zöpfe. Nun hat mich Hunli doch noch erwischt, dachte Lauscher. Doch es war nicht Hunli, der da aus dem Dunkel herangeritten kam und nun dicht vor ihm sein Pferd anhielt. Die Augen dieses Beutereiters waren anders als die des Khans, nicht abweisend und hart, sondern freundlich, ja fast heiter.
    »Wohin reitest du, Lauscher?« fragte Arni.
    »Zu deinen Leuten«, sagte Lauscher, wenn ihm auch fraglich schien, ob Arni verstand, wen er damit meinte.
    »Bist du da auf dem richtigen Weg?« fragte Arni.
    »Ich hoffe«, sagte Lauscher. »Genau weiß ich das nicht. Kann sein, daß ich mich verirrt habe. Willst du mir den Weg zeigen?«
    Arni schüttelte den Kopf. »Den mußt du schon selber suchen«, sagte er. »Ich werde draußen in der Steppe gebraucht.«
    »Was willst du dort?« fragte Lauscher.
    »Das solltest du doch wissen«, sagte Arni. »Ich muß meinem Bruder helfen, seine Leute zusammenzusuchen.«
    »Was gehen dich Hunlis Leute an?« sagte Lauscher. »Ich bin froh, daß sie mir noch nicht auf den Fersen sind.«
    »Haben sie nicht allen Grund dazu?« sagte Arni. »Du hättest Hunli den Stein zeigen sollen. Warum hast du das nicht getan?«
    Lauscher senkte den Kopf. »Ich hatte Angst, mich allein auf den Stein zu verlassen«, sagte er.
    »Wer seiner Angst nachgibt, macht Fehler«, sagte Arni. »Du solltest mehr Vertrauen haben, sonst wird dir der Stein wenig helfen. Auch nicht bei diesen Menschen, die du meine Leute nennst, wer auch immer das sein mag.« Er nickte Lauscher freundlich zu, trieb sein Pferd wieder an, daß er im Vorbeireiten Lauscher fast streifte, und war gleich darauf lautlos in der Nacht verschwunden. Erst jetzt wurde Lauscher bewußt, daß er ihn auch nicht hatte heranreiten hören, keinen Hufschlag, kein Klirren des Zaumzeugs, als bewege sich Arnis Pferd auf einer anderen Ebene. Und dann traf ihn wie ein eisiger Schreck die Erkenntnis, daß er eben mit einem Mann gesprochen hatte, der schon seit Jahren tot war. Wo war er hingeraten? Ritt er überhaupt noch über die Steppe oder hatte sich die Welt unversehens verschoben? Am Himmel war jetzt kein Stern mehr zu sehen. Vielleicht hatte sich die Wolkendecke geschlossen. Aber waren das überhaupt Wolken dort oben, oder war ein schwarzer Deckel zugefallen, der ihn absperrte von Himmel, Sternen und Wolken, von der Welt der Lebenden? Vielleicht ritt er längst durch einen Bereich, in dem Wiedergänger hausten und ihr Spiel mit ihm trieben.
    Plötzlich war der Wind wieder da. Lauscher spürte es so unvermittelt, als sei er eben aus einem Tor ins Freie geritten. Die Beklemmung war im Augenblick verflogen. Als er sich im Sattel umwandte, sah er, daß der schwarze Deckel des Himmels sich zu heben begann. Fern im Osten klaffte am Horizont ein heller Spalt und warf ein fahles Licht über die Steppe. Lauscher trieb sein Pferd zu einer schnelleren Gangart an; denn nun konnte er wieder erkennen, wohin er ritt. Nach und nach hellte sich die weite Ebene auf, und dann zeichnete sich weit voraus in dunklem Violett vor dem Grau des Himmels die Silhouette eines Gebirges ab, der Rand der Steppe, zu dem er unterwegs war. Obwohl er schon jetzt auf seinem Pferd eher hing als saß, beschloß Lauscher, noch so lange weiterzureiten, bis er die ersten Bäume erreicht hatte.
    Es war schon heller Vormittag, als er den Schatten der Bäume spürte. Die meiste Zeit über hatte er mit geschlossenen Augen auf dem Hals seines Pferdes gelegen und sich tragen lassen. Irgendwann hatte er in seinem Dämmerschlaf gemerkt,

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