Stein und Flöte
Schimmer durch seine geschlossenen Augenlider. Eine Zeitlang genoß er es, einfach so dazuliegen, sich nicht zu bewegen und die Wärme der Sonnenstrahlen auf seiner Haut zu spüren. Er mußte lange geschlafen haben, denn seine Glieder waren noch schwer wie nach einer tiefen Erschöpfung. Nachdem er eine Weile so gelegen hatte, beschloß er, die Augen zu öffnen.
Er schaute geradewegs in den blauen Himmel hinauf und erblickte einen Falken, der hoch über ihm zwischen den weißen Frühlingswolken schwebte. Der schlanke, schmalgeflügelte Vogel schien ihm über die Maßen schön in seiner freien, von keiner Schwere gefesselten Bewegung, und als er ihm eine Weile zugeschaut hatte, bedauerte er, daß er nur den schwarzen Umriß gegen den hellen Himmel erkennen konnte, und wünschte sich, der Falke komme herab und zeige sich ihm aus der Nähe.
Kaum hatte er diesen Wunsch in Gedanken ausgesprochen, da stieß der Falke auch schon in pfeilschnellem Flug herab, als wolle er ihm die Fänge ins Fleisch schlagen. Doch im letzten Augenblick bremste er seinen Sturz mit gespreizten Flügeln ab und ließ sich auf einem verrotteten Baumstamm dicht neben Lauscher nieder. Jetzt konnte er das Tier aus der Nähe betrachten, seinen schlanken, braungefiederten Körper, den stolz erhobenen Hals und den kühnen Kopf mit dem edel geschwungenen Schnabel.
»Du bist schön, Falke«, sagte Lauscher. »So wie du möchte ich sein: frei und ohne Schwere möchte ich am Himmel schweben.«
Da blickte der Falke ihn mit seinen moosgrünen Augen an und sagte: »Ich könnte dir dazu verhelfen, daß auch du dich in die Lüfte schwingst und fühlen kannst, wie das ist, wenn dich der Wind über die Wipfel trägt.«
»Alles würde ich dafür geben, wenn ich diese Art von Freiheit gewinnen könnte«, sagte Lauscher.
»Wenn du dazu wirklich bereit bist, wirst du werden wie ich«, sagte der Falke. »Gib mir den Stein, den du bei dir trägst. Du wirst nicht fliegen können, so lange dich dieser Stein an den Boden fesselt.«
Lauscher holte den Stein hervor und schaute ihn an. Je länger er dessen Farbenspiel betrachtete, desto weniger war er bereit, dieses Kleinod aus der Hand zu geben. »Willst du ihn behalten? Dann bleib wie du bist!« sagte der Falke, breitete seine Flügel aus und ließ sich emportragen. Lauscher folgte ihm mit den Blicken, und da wurde in ihm der Wunsch wieder übermächtig, ebenso frei dahinzuschweben. »Komm herunter zu mir!« rief er. »Ich will dir den Stein geben.« Da ließ sich der Falke wieder auf dem Baumstumpf nieder, und Lauscher legte den Stein vor seine Fänge. Sobald er dessen kühle Rundung nicht mehr berührte, spürte er ein seltsames Kribbeln in Händen und Armen und sah, wie überall auf seiner Haut braune Schwungfedern zu sprießen begannen, sich streckten und zu dem dichten Gefieder von Schwingen zusammenschlossen. »Ich habe Flügel!« rief er. »Nun will ich fliegen!«
»Versuch’s doch!« sagte der Falke. Aber war das noch ein Falke, der dort auf dem Baumstumpf saß? Auch mit ihm war eine Verwandlung vor sich gegangen. Statt des geschnäbelten Falkenkopfes wuchs aus dem braunen Gefieder der Schultern ein schmaler, glatter Hals, der einen Mädchenkopf von kühner Schönheit trug, und der lächelnde Mund des grünäugigen Mädchens war es gewesen, der die letzten Worte gesprochen hatte. »Komm!« sagte das Falkenmädchen. »Laß dich tragen von deinen Schwingen!« Gleich darauf schwang sie sich empor und begann über Lauschers Kopf zu kreisen.
Er versuchte es ihr nachzutun, aber es wollte ihm kaum gelingen, sich von der Erde zu lösen. Ein paar Flügelschläge lang taumelte er dicht über der Wiese dahin, dann verließen ihn die Kräfte, und er landete schwerfällig im Gras.
Enttäuscht kehrte er zu seinem Platz neben dem Baumstumpf zurück und schaute nach dem Falkenmädchen aus, das mittlerweile hoch oben zwischen den Wolken segelte. »Komm herauf! Komm herauf!« hörte er ihre ferne Stimme aus der Höhe rufen. Da legte er den Kopf zurück und schrie zu ihr hinauf: »Du hast mir versprochen, daß ich fliegen kann. Jetzt löse dein Wort ein!«
Sogleich ließ sich das Falkenmädchen wieder in die Tiefe sinken und setzte sich auf den Baumstumpf. »Du bist noch immer zu schwer, Lauscher«, sagte sie. »Gib mir deine silberne Flöte! Sie ist es, die dich nicht in die Höhe steigen läßt.«
»Du verlangst viel von mir!« sagte Lauscher; denn sein Herz hing an dieser Flöte.
»Hast du nicht gesagt, daß du alles
Weitere Kostenlose Bücher