Stein und Flöte
dafür geben würdest, um fliegen zu können?« sagte das Falkenmädchen. »Was willst du überdies mit deiner Flöte noch anfangen? Mit Federn statt Fingern wirst du sie nicht mehr spielen können.« Erst da wurde Lauscher bewußt, daß seine Flöte für ihn unnütz geworden war, und es wurde ihm gleichgültig, was mit ihr geschah. Er schob sie mit einem seiner Flügel aus der Tasche, daß sie ins Gras rollte, und stieß sie mit dem Fuß zu dem Baumstumpf. »Auch dir wird die Flöte wenig nützen«, sagte er dabei.
»Das wird sich zeigen«, sagte das Falkenmädchen, und im nächsten Augenblick sah Lauscher auch schon, wie sie das gemeint hatte. Die Schwungfedern lösten sich von ihren Flügeln, auch der Flaum darunter fiel ab und gab glatte, schlanke Mädchenarme frei. Zugleich kam es Lauscher so vor, als sei das Falkenmädchen jetzt viel größer, als es ihm zuvor erschienen war. Oder war er selbst kleiner geworden? Er blickte an sich herab und entdeckte, daß seine Kleider verschwunden waren. Statt dessen war sein Körper von braunem Gefieder bedeckt, und wo eben noch seine Füße gewesen waren, krallten sich Fänge in den grasigen Boden.
»Nun flieg, Lauscher!« sagte das Mädchen mit dem Falkenkörper, hob mit ihren schmalen Fingern die Flöte vom Boden auf und begann auf ihr zu spielen.
Wieder breitete Lauscher seine Schwingen aus, und diesmal gelang es ihm, sich mit den ersten Flügelschlägen bis zur Höhe der Wipfel des Jungwaldes am Rande der Wiese zu erheben. Er erkannte jetzt, daß er mitten auf einer Lichtung gelegen hatte, die rings von schmalstämmigen jungen Eichen, Buchen und Birken umgeben war. Während er über die Lichtung flatterte, sah er unten auf dem Baumstumpf das Falkenmädchen sitzen, und er hörte die lockende Melodie, die sie auf ihrer Flöte spielte.
Er wollte höher fliegen, bis hinauf zu den Wolken, doch er merkte bald, daß sein schwerfälliger Flügelschlag weit entfernt war von dem geschmeidigen Flug des Falken. Und als ihn gar ein Windstoß traf, packte ihn der Schwindel, und er mußte all seine Kraft aufwenden, um nicht abzustürzen. Er begnügte sich damit, niedrig über der Lichtung zu kreisen, und dabei spürte er immer stärker, wie ihn das Flöten des Falkenmädchens anzog. »Komm zu mir, Lauscher, mein Falke!« flötete sie. »Ich werde dir zeigen, wie man leicht und frei unter den Wolken schwebt.«
Lauscher konnte sich dem Zwang der Melodie nicht entziehen, flog seine Kreise immer niedriger und setzte sich schließlich auf die Hand, die das Mädchen mit dem Falkengefieder ihm entgegenstreckte. »Dir fehlt noch die Leichtigkeit, um wie ein Falke in den Himmel zu steigen«, sagte sie. »Du mußt mir noch etwas schenken, das dich beschwert.«
»Was soll ich dir noch geben?« sagte Lauscher. »Ich habe nichts mehr.«
»Mehr als du meinst«, sagte das Falkenmädchen. »Schenke mir als drittes deine Gedanken, die dich in der Höhe schwindeln lassen und dich immer wieder hinunterziehen auf die Erde!«
»Wie soll ich dir meine Gedanken geben?« sagte Lauscher. »Sie wohnen in meinem Kopf, und ich kann sie nicht herausholen, selbst wenn ich das wollte.«
Da schaute ihn das Falkenmädchen mit ihren grünen Augen an und sagte: »Ich kann sie dir nehmen.« Sie beugte ihren Arm und brachte den Falken, der noch immer Lauscher hieß, nahe vor ihr Gesicht. »Küß mich!« sagte sie. »Küß mich auf den Mund, Lauscher!«
Da küßte Lauscher das Falkenmädchen auf den Mund und sah eine Zeitlang nichts als das moosgrüne Leuchten ihrer Augen; er verlor sich in dieser grünen, flimmernden Welt, seine Gedanken vergingen und mit ihnen die Erinnerung an das, was er früher einmal gewesen war. Und während er sie küßte, fiel das braune Federkleid des grünäugigen Mädchens ab; sie stand auf schlanken Beinen im Gras, und ihr hellhäutiger Leib schimmerte wie Mondstein. Der Falke auf ihrer Faust öffnete seinen scharfen Schnabel und stieß den Schrei der Falken aus. »Nun bist du mein Falke«, sagte das Mädchen und strich ihm über das Gefieder. Dann warf sie ihn in die Luft und rief: »Flieg, mein Falke, flieg hinauf bis zu den Wolken. Wenn du für mich jagen sollst, wird dich meine Flöte zu mir zurückrufen.«
Der Falke breitete seine Schwingen aus, stieg und stieg, bis seine Flügel den Rand der Wolken streiften. Er spähte hinunter auf das grüne Gekräusel der Wälder, zwischen denen die kleine Lichtung kaum noch zu erkennen war. Aber was kümmert einen Falken schon eine
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