Stein und Flöte
Vaters blieb in den unteren Räumen zurück und wurde reich bewirtet, während Wendikar meinen Vater bat, ihm weiter zu folgen.
Noch nie sei ihm ein Weg so lang vorgekommen wie jener durch das Haus des Großmagiers, sagte mein Vater. Es ging durch Flure und reich mit Teppichen ausgestattete Gemächer, hinauf über Treppen und wieder durch Gänge, weitläufige Räume und Galerien, von denen aus man über weitere Treppen noch höher hinaufstieg. Anfangs fiel noch Tageslicht durch Türen oder Fensterluken, doch bald wurden die Räume nur noch von Lampen erhellt, in denen köstlich duftendes Öl brannte, und je weiter sie kamen, desto tiefer gerieten sie in die Dunkelheit. In den oberen Stockwerken brannten nur noch wenige Lampen, in deren mattem Schein hie und da ein goldenes Gefäß aufblitze oder die Farben eines kostbaren Wandbehangs purpurn und blau aus dem Dunkel heraustraten.
Schließlich blieb Wendikar vor der letzten Tür stehen, in deren Mitte ein bronzener Falkenkopf im Licht zweier Öllampen schimmerte, die an Ketten rechts und links der Türpfosten hingen. Wendikar griff nach dem Falkenkopf, hob ihn leicht an und ließ ihn wieder fallen. Der gekrümmte Schnabel tauchte in eine Öffnung ein, und sogleich füllte ein tiefes, summendes Dröhnen wie von einem riesigen metallenen Becken den Raum. So lange dieses bebende Summen andauerte, geschah nichts, doch als es verklungen war, glitt die Tür zur Seite, und durch die Öffnung drang eine derart gleißende Helligkeit, daß mein Vater geblendet die Augen schließen mußte. Er spürte Wendikars Hand an seinem Ellenbogen und wurde vom Hüter der Falken in einen Raum geführt, der hinter dieser Tür lag. Als er sich an dieses strahlende Licht gewöhnt hatte und seine Augen wieder gebrauchen konnte, erkannte er, daß er sich auf der höchsten Terrasse des Hauses befand. Nach allen Seiten des fünfeckigen Raumes hin blickte man durch breite Fenster hinunter auf die Stadt und konnte den Plan überschauen, nach dem sie gebaut worden war: ein regelmäßiges Fünfeck, das von fünf Straßen in gleiche Teile zerschnitten wurde. Jenseits der äußeren Mauer sah man das grüne Land und den Braunen Fluß, und von Westen her warf die Abendsonne einen breiten Lichtbalken genau auf die Tür, durch die mein Vater mit seinem Begleiter eingetreten war.
Er war von diesem Ausblick so gefesselt, daß er zunächst auf nichts anderes achtete, bis ihn jemand fragte, ob ihm diese Aussicht gefalle. Erst da bemerkte er den schmalen, fast unscheinbaren, schwarzgekleideten Mann, der in einer der Fensterleibungen lehnte und jetzt diese Frage an ihn gerichtet hatte. Neben diesem Mann stand Wendikar, und beide lächelten über das Erstaunen meines Vaters.
›Noch nie habe ich aus solcher Höhe auf das Land hinuntergeschaut‹, sagte mein Vater. ›Ich fühle mich wie ein Vogel, der am Himmel schwebt.‹
›Wie ein Falke‹, sagte der Schwarzgekleidete. ›So soll es auch sein. Es freut mich, daß dir mein Haus gefällt, so wie dem Khan der Vogel gefallen wird, den du auf der Faust trägst; denn er ist ihm in drei Dingen ähnlich: Zum ersten liebt er den freien Ausblick auf die Steppe, zum zweiten stößt er herab, wenn er eine Beute erspäht, und zum dritten vermeidet er es, seinem Nachbarn das Revier streitig zu machen.‹
Da erkannte mein Vater, daß er vor dem Großmagier stand. Und Wendikar, mit dem der Großmagier umging wie mit einem Freund, war alles andere als ein einfacher Bediensteter, wenn man von den Diensten absehen will, die er seinem Herrn leistete; denn mein Vater erfuhr, daß der Titel ›Hüter der Falken‹ das höchste Amt bezeichnet, das es nach dem Großmagier bei den Falkenleuten gibt.
Ich will dich nicht mit den Verhandlungen langweilen, die mein Vater mit dem Großmagier führte. Es genügt zu sagen, daß sie einig wurden und daß Wendikar danach meinen Vater einlud, für eine Woche sein Gast zu sein. Er wohnte mit seiner Familie im zweithöchsten Stockwerk des großen Hauses, so daß mein Vater nun täglich den weiten Rundblick genießen konnte, wenn auch nicht aus solcher Höhe wie am ersten Tag. Hier war es, wo er meine Mutter traf. Sie hieß Belenika und war Wendikars Tochter.
Mein Vater hat mir in der Nacht nach dem Tode meiner Mutter viel von ihr erzählt und sagte, daß sie ihn von Anfang an bezaubert habe. Sie hatte die gleichen grünen Augen wie ich, und du hast schon recht mit deiner Vermutung, daß ich ihr auch sonst in vielem ähnlich bin.
Bei den
Weitere Kostenlose Bücher