Stein und Flöte
Großmutter hätte sein können. Und dann sprach sie den Vers, den Arni dir gesagt hat, Lauscher, ehe er starb.
So kam Arni zu seinem Stein. Er hielt ihn noch immer in der Hand und schaute ihn an, während Hunli seine goldene Fibel stolz an seinem Wams befestigte. Urla stand auf, und das war das Zeichen zum Abschied. Der Khan verbeugte sich vor ihr und dankte für den weisen Spruch. Während die anderen schon hinausgingen, hielt mich Urla zurück und sagte: »Warte noch einen Augenblick, Flöter. Ich muß mit dir reden.«
So blieb ich allein mit ihr in der Stube und wartete neugierig, was diese weise Frau einem jungen Herumtreiber zu sagen hatte.
»Der Khan hat mir erzählt«, begann sie, »daß dein Flötenspiel die Brüder daran gehindert habe, miteinander zu kämpfen. Stimmt das?«
»Ja«, sagte ich. »Meine bescheidene Kunst bringt Menschen zuweilen auf bessere Gedanken.«
»Spiel mir etwas vor!« sagte sie unvermittelt.
Da zog ich meine Flöte heraus, und während ich spielte, schaute Urla mich auf eine Weise an, daß ich den Blick nicht von ihren Augen lösen konnte. Ich stürzte in ihre Augen wie in einen Brunnen, der mit zunehmender Tiefe immer weiter und lichter wurde, ein Strahlenkranz von Farben umschloß mich, grün, blau, violett, der sich auflöste zu Bildern und Gestalten. Ich sah Bettler zu Königen und Könige zu Bettlern werden, ich sah, wie Menschen blind anderen Menschen Leid zufügten und sich in Schuld verstrickten, und ich sah, wie diesen Menschen durch die Liebe anderer die Blindheit genommen wurde, und sie erkannten ihre Schuld und wuchsen und wuchsen, bis diese Schuld von ihnen abfiel wie ein zerschlissenes Hemd. Und alles, was ich erblickte, spielte ich auf meiner Flöte, bis mir der Atem ausging und ich Urla wieder vor mir stehen sah. Da nahm sie mich in die Arme und küßte mich, wie ein Mädchen seinen Geliebten küßt, und sagte: »Ich danke dir, Flöter, daß du für mich gespielt hast. Nun bitte ich dich noch um eines: Bleibe noch im Lager des Khans, solange es dir möglich ist, und schenke Arni deine Freundschaft. Er wird sie brauchen. Geh jetzt.«
Der Khan hatte mit seinen Söhnen an der Stelle gewartet, wo der Weg wieder in den Bergwald hinabführte. »Urla scheint viel von deiner Kunst zu halten, Flöter«, sagte er, als wir gemeinsam den Abstieg begannen. »Willst du mir die Freude machen, noch länger Gast in meinem Lager zu sein?« Ich dachte an Urlas Worte und nahm die Einladung an.
Sieben Tage ritten wir zurück über die Steppe, und hinter uns versanken die Berge, bis sie wieder wie eine ferne blaue Wolkenbank dicht über dem Horizont ruhten. Im Lager wies mir der Khan ein eigenes Zelt an, und ich lebte danach ein ganzes Jahr bei den Beutereitern.
Die Brüder hielten sich an das Versprechen, das sie Urla gegeben hatten. Aber sie begannen in dieser Zeit, getrennte Wege zu gehen. Hunli war meist an der Seite seines Vaters zu finden, nahm an den Beratungen in seinem Zelt teil und begleitete ihn, wenn er über die Steppe ritt, um benachbarte Fürsten zu besuchen. Arni hingegen blieb viel für sich allein, so daß es mir nicht schwerfiel, seine Freundschaft zu gewinnen.
Oft, wenn ich sein Zelt betrat, saß er am Feuerplatz, hielt den Stein in der Hand und starrte ihn an, als könne er ihm damit sein Geheimnis entreißen. »Er will nicht zu mir sprechen«, sagte er einmal, nachdem ich lange Zeit schweigend neben ihm gesessen hatte, verzaubert von dem Farbenspiel, das die Flammen in dem Stein zum Leben weckten. Da erinnerte ich Arni an Urlas Worte, daß der Stein allein noch nicht alles sei.
»Du hast gut reden«, sagte Arni. »Deine Flöte spricht mit dir, wenn du sie spielst. Aber mein Stein bleibt stumm, auch wenn mir sein Anblick das Herz wärmt.«
»Ganz so, wie du meinst, verhält es sich nicht«, erwiderte ich. »Anfangs habe ich versucht, für mich allein auf meiner Flöte zu spielen. Aber dabei brachte ich nur eine Folge von Tönen zustande, die mich gleichgültig ließen. Später entdeckte ich dann, daß ich die Flöte für andere spielen mußte, wenn sie auch zu mir sprechen sollte. Und so wirst du das Geheimnis deines Steines wohl auch nicht zwischen den Wänden deines Zeltes ergründen.«
»Vielleicht hast du recht«, sagte er. »Komm, wir reiten hinaus in die Steppe.«
Seit diesem Tag wären wir häufig zusammen unterwegs, Arni auf seinem struppigen Pferd und ich auf meinem Maultier. Von Mal zu Mal dehnte Arni unsere Ritte weiter aus. Wenn wir zu einem
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