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Stein und Flöte

Stein und Flöte

Titel: Stein und Flöte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Bemmann
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liebe sie beide auf die gleiche Weise. Doch nur einer von ihnen kann die Herrschaft erhalten.«
    »Und was bekommt der andere?« fragte Urla.
    »Was soll er bekommen?« sagte der Khan verständnislos. »Nichts. Er wird dem ersten dienen müssen.«
    »Wundert es dich, daß sie darüber in Streit geraten?« fragte Urla. »Du stellst die Entscheidung falsch. Für beide muß ein Ziel gezeigt werden, damit sie den Pfeil ihrer Wünsche nicht auf das gleiche richten.«
    »Ich kenne nur ein Ziel«, sagte der Khan, »und das ist die Herrschaft über das Volk der Beutereiter.«
    »Du kennst kein anderes, weil es immer dein eigenes Ziel gewesen ist«, erwiderte Urla. »Meinst du, es gäbe nichts anderes außer dem, was du dir vorstellen kannst? Das ist noch lange nicht alles.«
    »Du bist also bereit, die Entscheidung zwischen ihnen zu treffen?« fragte der Khan gespannt.
    »Nein«, sagte sie. »Hunli und Arni sollen selbst entscheiden.« Sie stand auf, öffnete eine Truhe und holte zwei Gegenstände heraus, die sie vor den Zwillingen auf den Tisch legte. Der eine war ein glatter, rund abgeschliffener Stein, unter dessen durchsichtiger Oberfläche ein farbiger Strahlenring schimmerte. Du kennst ihn, Lauscher, denn du trägst ihn auf der Brust. Der andere war eine goldene Fibel von der Gestalt eines Reiters, der ein Krummschwert über dem Kopf schwang.
    »Nun wählt, ihr Zwillinge«, sagte sie, »den Reiter oder den Stein. Beides ist eine gute Wahl, aber nur eins davon bringt die Herrschaft. Laßt euch Zeit und überlegt gut. Aber vorher müßt ihr mir schwören, daß ihr die Entscheidung, die ihr jetzt fällt, für alle Zeiten annehmen werdet und euren Streit begrabt. Gebt euch die Hand darauf.«
    Die Brüder taten, wie sie geheißen hatte, und blickten dann lange Zeit auf die beiden Dinge, die vor ihnen lagen. »Ich habe gewählt«, sagte Hunli schließlich.
    »Dann komm zu mir und sage mir leise ins Ohr, was du haben willst«, sagte sie.
    Hunli tat dies, und dann stand auch Arni auf und flüsterte ihr seine Entscheidung ins Ohr. Als er sich wieder gesetzt hatte, blickte Urla die beiden Brüder lächelnd an und sagte: »Nun ist es entschieden. Warum hast du den Reiter gewählt, Hunli?«
    Hunli bedachte sich für einen Augenblick und sagte dann: »Aus drei Gründen. Einmal sitzt er auf einem Pferd wie alle Männer meines Volkes. Zum anderen schwingt er ein Krummschwert, wie es die Art eines Anführers ist. Und zum dritten ist er aus Gold, das dem Schmuck des Herrschers vorbehalten ist.«
    Urla nickte und fragte dann Arni, was ihn zur Wahl des Steines bewogen habe. »Auch ich habe drei Gründe«, sagte dieser. »Zum ersten ist er klar und ohne Makel, wie ein Mensch sein sollte. Zum anderen macht es mir das Herz warm, wenn ich ihn anschaue. Und zum dritten birgt er ein Geheimnis, das ich ergründen möchte.«
    »Siehst du jetzt«, sagte Urla zu dem Khan, »daß deine Söhne doch nicht von gleicher Art sind? Sie sehen sich nur ähnlich, aber was besagt das schon. Nun haben sie selbst offenbart, wer von ihnen zum Herrscher bestimmt ist.«
    »Und wer von beiden wird nun mein Nachfolger sein?« fragte der Khan.
    »Das weißt du nicht? Natürlich Hunli. Einmal liebt er die Art seines Volkes, das auf Pferden reitet; zum anderen wird er nicht zögern, für sein Volk das Schwert zu ziehen, wenn es ihm nötig zu sein dünkt; und drittens ist er bereit, die Macht auszuüben, die das Gold ihm verleiht. Er ist zum Herrscher geboren.«
    »Und ich nicht?« fragte Arni enttäuscht, ohne die Augen von dem Stein zu lösen, der vor ihm auf dem Tisch lag.
    »Nein«, sagte Urla, »du nicht. Du hast etwas gewählt, das besser ist für dich. Als Herrscher könntest du nicht klar und ohne Makel bleiben wie dieser Stein; denn du würdest Dinge tun müssen, die wider deine Natur sind. Du würdest nicht deinem Herzen folgen dürfen, und das Geheimnis, das dieser Stein birgt, würdest du nie ergründen können. Denn in Wahrheit ist der Herrscher zum Diener bestimmt und muß nach den Zwängen seiner Herrschaft handeln. Du aber wirst frei sein, nach dem Geheimnis zu suchen. Wie weit du dabei kommst, liegt bei dir. Doch solange du dir diese Freiheit bewahrst, werden die Mächtigen deinen Rat suchen, wie mich dein Vater um meinen Rat gefragt hat.«
    »Hast du das Geheimnis schon gefunden?« fragte Arni und blickte Urla erwartungsvoll an. Eine Zeitlang schauten sie einander in die Augen. Fast wie ein Liebespaar, mußte ich damals denken, obwohl sie seine

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