Stein und Flöte
böse Begegnung denken«, sagte Lauscher.
»Aber du denkst noch daran«, sagte Arnilukka und schauerte zusammen, als sei ihr plötzlich kühl geworden.
»Das braucht dich nicht zu ängstigen«, sagte Lauscher. »Es war ein Teil meiner Geschichte, der nun vorbei ist. Komm, wir wollen noch ein Stück laufen, sonst holst du dir hier am Wasser noch einen Schnupfen.«
Während sie am Bach entlang weitergingen, grübelte Lauscher darüber nach, ob das stimmte, was er eben gesagt hatte. War die Geschichte Gisas wirklich abgeschlossen und vorbei? Gingen die Geschichten von Menschen überhaupt jemals zu Ende? Dann hätte es Gisa gleichgültig sein können, was für ein Baum über ihrem Grab Wurzeln trieb. Er selbst würde jedenfalls diese Geschichte niemals aus seinem Gedächtnis löschen können; sie war ein Faden im Gewebe seines eigenen Lebens, den man nicht herauslösen konnte, ohne das ganze Gewebe zu zerstören. Je länger er darüber nachdachte, desto tiefer geriet er in die Angst, daß er sich nie aus dieser Verstrickung würde befreien können.
»Denk nicht mehr dran!« Arnilukkas Worte rissen ihn aus seinen Gedanken. Sie schaute ihn von der Seite an, hatte ihn wohl auch schon länger beobachtet. Es tat ihm wohl, dieses Kind neben sich zu haben, dessen Augen seinem Stein glichen. Sie wärmten ihm das Herz, als trüge er den Stein noch auf der Brust.
Am nächsten Morgen weigerte sich Arnilukka entschieden, noch einmal über das Joch zu reiten, und nach allem, was am Rand des Schauerwaldes geschehen war, konnte man ihr das nicht verdenken. Lauscher hatte zudem den Verdacht, daß sie es auch ihm ersparen wollte, zum Grab dieses seltsamen Wolfes zurückzukehren. Zum Dank dafür ergriff er ihre Partei und sagte, daß er gern einen anderen Weg zurückreiten würde, um das Unterland von Arziak kennenzulernen. Da blieb Promezzo schon aus Höflichkeit nichts anderes übrig, als nachzugeben. »Der Weg durch das Tal ist allerdings etwas länger«, sagte er, »und zudem nicht ungefährlich. Wir müssen durch eine enge Klamm reiten, in der man leicht einen Stein auf den Schädel bekommen kann. Wenn dir das lieber ist als der Weg über den Schauerwald, mir soll’s recht sein.«
Lauscher wollte es riskieren, zumal er merkte, daß Arnilukka nichts dagegen einzuwenden hatte. Vermutlich war sie schon zufrieden, daß sie in der Nähe des Bachs bleiben konnte, durch welche Klüfte er auch fließen mochte. Lauscher war sogar geneigt zu glauben, daß ihr dort wirklich nichts zustoßen konnte.
Sie ritten also talabwärts über die Wiesen, bis sie auch in dieser Richtung wieder auf Wald stießen. An dieser Stelle begann der Bach sich tief in den felsigen Grund einzusägen und stürzte in einer Folge von schäumenden Kaskaden hinunter in eine Schlucht. Man sah von oben einen schmalen Pfad, der in vielen Kehren an einer einigermaßen gangbaren Stelle des Hangs bis hinunter in den Grund führte. Wenn er allein gewesen wäre, hätte Lauscher wahrscheinlich den Plan aufgegeben, ein Pferd über diesen Weg hinunterzuführen. Promezzo, der sicher nicht zum ersten Mal hier war, sprang aus dem Sattel und begann wortlos den Abstieg. Arnilukka folgte ihm ohne Zögern mit ihrem Pony, und so mußte Lauscher wohl oder übel hinterdreinklettern. Von einigen ausgesetzten Stellen über steil abfallenden Felsen abgesehen, war der Pfad sicherer, als er von oben gesehen gewirkt hatte, und es dauerte nicht lange, bis er den Grund erreichte.
Zunächst konnte Lauscher überhaupt nicht herausfinden, wo es hier weitergehen sollte. Auf allen Seiten ragten rötliche Felswände turmhoch empor und ließen oben nur einen schmalen Streifen des blauen Himmels frei. Das übereinanderstürzende Wasser brauste mit solchem Getöse durch die ausgewaschenen Höhlungen, daß man kaum sein eigenes Wort verstehen konnte. Arnilukka bekam wieder ihren ängstlichen Blick, und auch den Pferden schien der Aufenthalt in dieser tosenden Enge nicht zu behagen. Sie tänzelten nervös und verdrehten die Augen, bis man das Weiße sehen konnte. Promezzo versuchte sein Pferd zu beruhigen und führte es am Zügel auf einem sandigen Streifen am Bach entlang weiter. Gleich darauf war er hinter einer überhängenden Felswand verschwunden. Lauscher ließ dem Mädchen wieder den Vortritt und folgte ihr als letzter.
Nach kurzer Zeit war er taub vom Rauschen des Wassers und vom Poltern der Rollsteine. Die Klamm schien sich immer tiefer ins Gebirge zu schneiden, und zuweilen traten die Wände
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