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Stein und Flöte

Stein und Flöte

Titel: Stein und Flöte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Bemmann
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bettete sie in die Grube und bedeckte sie mit Steinen und der ausgebrochenen Erde. In der Nähe fand er auch den Schößling einer jungen Eberesche, den er mit dem Messer ausgrub und auf das Grab pflanzte. Als er die Erde festgestampft hatte, blieb er noch eine Weile stehen und fragte sich, welchen Weg Gisa wohl gegangen sein mochte, seit er sie zum letzten Mal gesehen hatte. Er wurde aus ihr nicht klug. Einmal hatte sie sich schützend zwischen ihn und den alten Wolf gestellt, dessen Kadaver jetzt drüben auf der Wiese lag, den Adlern zum Fraß. Und jetzt hatte sie Arnilukka töten wollen. Warum? Er fand keine Antwort auf diese Frage. Dann hörte er Promezzo rufen. Es war wohl an der Zeit, weiterzureiten. Er warf noch einen Blick auf die junge Eberesche. Hoffentlich wuchs sie an und schützte die Tote, die unter ihren Wurzeln lag. Dann ging er langsam zu den anderen zurück.
    Arnilukka saß der Schreck noch in den Gliedern. Sie war schneeweiß im Gesicht und klammerte sich zitternd an ihren Vater. »Du brauchst dich nicht mehr zu fürchten«, sagte Lauscher zu ihr. »Die Wölfe sind tot und können dir nichts mehr tun.«
    »Ich weiß«, sagte Arnilukka. »Aber jetzt müssen wir wieder durch den Wald reiten.«
    »Du darfst vor mir auf meinem Pferd sitzen«, sagte Promezzo. »Lauscher wird dein Pony am Zügel führen. Wir können hier nicht mehr länger bleiben, wenn wir vor Einbruch der Dunkelheit unten bei den Hirtenhäusern sein wollen.«
    Der Abstieg hinunter ins Flachtal war wesentlich steiler als der Weg, den sie von Arziak her geritten waren. Sie mußten ständig im Schritt reiten und an manchen Stellen sogar absteigen. Arnilukka sprach die ganze Zeit über kein Wort und hielt ihren Vater bei der Hand, wenn sie zu Fuß gingen. Kurz vor Sonnenuntergang erreichten sie schließlich den Talboden. Hier stieg Arnilukka wieder auf ihr Pony, und nach einem raschen Ritt kamen sie zu den Hirtenhäusern, als die Sonne im Westen eben hinter den Wäldern untertauchte.
    Am nächsten Morgen ritt Promezzo allein hinaus zu den Herden und sagte, er würde erst gegen Mittag zurück sein. Lauscher saß noch mit Arnilukka bei der Morgenmilch. Er hatte schlecht geschlafen. Immer wieder hatte er sich selbst mit gespanntem Bogen am Hang stehen sehen, immer wieder hatte er seinen Pfeil auf die heulende Grauwölfin gerichtet, immer wieder war der Pfeil von der Sehne geschnellt und mit lähmender Langsamkeit über die Bergwiese geflogen. ›Spring beiseite!‹ hatte er geschrien, aber die Wölfin war auf der Stelle stehen geblieben, an der sie die Eberesche festgebannt hatte, und der Pfeil hatte sein Ziel erreicht und hatte sich in die graufellige Flanke gebohrt. Immer wieder fragte sich Lauscher, ob er diese Kette von Ursache und Wirkung an irgendeiner Stelle hätte unterbrechen können, aber es lag nicht in seiner Macht, das Geschehen zu ändern. Warum hatte es sein Pfeil sein müssen, der Gisa traf? Und welche Rolle spielte Arnilukka im Zusammenhang dieser Ereignisse, deren Endgültigkeit nicht mehr aufzuheben war? Er fühlte sich verstrickt in einem Netz von Bezügen, das tief im Unerkennbaren verankert war.
    »Gehst du mit zu meinem Lieblingsplatz?« fragte Arnilukka.
    Lauscher schüttelte die Gedanken ab, die er die Nacht über nicht losgeworden war. »Gern«, sagte er. »Hast du gut geschlafen?«
    »Herrlich«, sagte Arnilukka. Sie schien wieder fröhlich zu sein wie ehedem und hatte den Schrecken offenbar überwunden.
    »Brauchen wir die Pferde?« fragte Lauscher.
    »Nein«, sagte Arnilukka. »Es ist nicht weit, und ich möchte gern zu Fuß am Bach entlang gehen.«
    Sie lief ihm voraus durch das dunkelgrüne Gras, in dem hie und da fettiggelb glänzende Sumpfdotterblumen blühten, und folgte dabei jeder Windung des Bachlaufs. Bei einer alten Kopfweide blieb sie stehen, legte sich bäuchlings ins Ufergras und schaute in das fließende Wasser. Im Näherkommen sah Lauscher, daß sie ihre Hand in die Strömung tauchte und mit der schäumenden Welle spielte, die sich vor ihren Fingern aufstaute. Dann fing sie an, unter der Uferböschung herumzutasten, packte plötzlich zu und zog einen Krebs aus dem Wasser, der hilflos seine Scheren durch die Luft schwenkte. Lachend hielt sie ihn hoch, um ihn Lauscher zu zeigen. Dann setzte sie den Krebs vorsichtig ins Wasser zurück und sah zu, wie er rasch unter seine Böschung kroch.
    Von dieser Stelle an gingen sie zusammen weiter, aber Arnilukka war nicht bereit, auch nur eine Schleife des

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