Stein und Flöte
Lauscher zuruderte und ihn dermaßen interessiert anschaute, daß er sich ein Herz faßte und sie fragte: »Kannst du mir wohl sagen, ob das Wasser tief ist?«
»Wenn du schon so höflich fragst, sollst du auch eine Antwort bekommen«, sagte die Ente. »Das Wasser ist so tief, daß nicht einmal wir wissen, ob es überhaupt einen Grund hat. Du kannst wohl nicht schwimmen?«
»Nein«, sagte Lauscher. »Wo ich aufgewachsen bin, gab es nur schmale Bäche und seichte Flüßchen.«
»Und nun fragst du dich, wie du auf die andere Seite kommst«, sagte die Ente. Ihr leises Quarren klang wie unterdrücktes Kichern.
»Allerdings«, sagte Lauscher ein wenig ungehalten. »Kennst du einen Weg?«
»Wenn du ein bißchen Mut hast, dann wüßte ich schon einen«, sagte die Ente. »Geh mir nach!« Damit wendete sie sich ab und begann rasch den Graben entlangzuschwimmen. Nach einiger Zeit fragte Lauscher: »Wie weit soll ich dir denn noch nachlaufen?«, doch die Ente sagte nur: »Sei nicht so ungeduldig, sonst erreichst du nie dein Ziel! Geh mir nach!« und schwamm munter weiter.
Schließlich gelangten sie zu einer Stelle, an der die runden Blätter der Wasserrosen auf dem Wasser schwammen. Hier paddelte die Ente zum Ufer und sagte: »Das ist der richtige Platz. Du brauchst nur von Blatt zu Blatt zu springen, und schon bist du drüben. Einen anderen Weg gibt es nicht. Mehr als sieben Sprünge darfst du allerdings nicht machen, denn es gibt nur sieben Blätter, die dich tragen werden. Mit einem bißchen Glück wirst du schon die richtigen treffen.«
Dieser Vorschlag erschien Lauscher ziemlich leichtfertig; denn es waren Hunderte von Seerosenblättern, die sich auf dem Wasser wiegten. Vorsichtig setzte er den Fuß auf ein Blatt, das sich dicht am Ufer entrollt hatte, doch es bot nicht den geringsten Halt, sondern tauchte sofort unter. »Wahrscheinlich werde ich in diesem Graben elendiglich ersaufen«, sagte Lauscher.
Die Ente schüttelte mißbilligend den Kopf und sagte: »Du bist zu ängstlich. Solange du nur daran denkst, was dir zustoßen könnte, erreichst du nie dein Ziel.
Spring von Blatt zu Blatt,
dann geht alles glatt.«
Danach nahm sie einen kurzen Anlauf und flog dicht über der Wasserfläche davon.
Da stand Lauscher nun am Ufer und versuchte herauszufinden, welche der Seerosenblätter die richtigen waren, aber sie sahen alle gleich aus. Schließlich sagte er sich, daß er hinübergelangen müsse, und wenn es ihm das Leben koste. So raffte er all seinen Mut zusammen, nahm einen Anlauf und sprang.
Er flog über das Wasser, Wind sauste in seinen Ohren, sein Fuß landete auf einer festen, federnden Fläche, stieß sich wieder ab oder wurde abgestoßen, Millionen von Wassertropfen spritzten ringsum auf und flimmerten unter der Sonne in allen Farben, und er sprang durch den lichtfunkelnden Vorhang zum nächsten Blatt, das ihn federnd empfing und dann weitergab an das dritte; er spürte, daß es nicht seine Kraft war, die ihn hinüberschnellte zum vierten, sondern daß die Kraft der Blätter mit ihm spielte wie mit einem Ball, den das vierte Blatt dem fünften zuwarf, das ihn dem sechsten weitergab, und das andere Ufer lag noch immer viel zu weit entfernt für den letzten Sprung, doch das sechste Blatt schleuderte ihn in mächtigem Schwung durch farbenschillernde Kaskaden hinüber zum siebenten, das dicht am anderen Ufer seine runde Fläche ausgebreitet hatte und ihn auffing wie eine Hand.
Den letzten Schritt auf das grasbewachsene Ufer machte er aus eigener Kraft. Viel Platz war hier nicht; denn unmittelbar auf der Höhe der Böschung setzte die Mauer an, die aus diesem Blickwinkel noch höher wirkte, ja schier unübersteigbar. Lauscher versuchte, die Fußspitze in den Spalt zwischen zwei Steinblöcken zu zwängen, doch sobald er den anderen Fuß nachziehen wollte, rutschte er mit dem ersten ab und stand wieder im Gras. Er versuchte es noch mehrmals an anderen Stellen, und endlich fand er eine, an der die Spalten zwischen den Bruchsteinen bedeutend breiter und tiefer waren und hinreichend Halt für Hände und Füße boten. Eng an die Mauer gepreßt schob er sich von Stein zu Stein nach oben, war schon bald vier oder fünf Klafter über dem Boden, vermied es aber hinunterzuschauen; denn er begann sich Gedanken darüber zu machen, was geschehen würde, wenn er aus dieser Höhe abstürzte, womöglich in den Wassergraben, dessen Tiefe nicht einmal die Enten kannten. Er bemerkte zudem, daß die Spalten von Griff zu Griff
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