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Stein und Flöte

Stein und Flöte

Titel: Stein und Flöte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Bemmann
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du schon so höflich fragst«, sagte das Rotkehlchen, »dann will ich es dir zeigen. Komm mit!« Es schlüpfte aus seinem Nest, hüpfte auf einen Zweig, flog ein Stück nach rechts an der Hecke entlang und ließ sich wieder nieder, um auf Lauscher zu warten. Als er das Rotkehlchen eingeholt hatte, rief es wieder: »Komm mit!« und flog ein Stück weiter, und so ging das eine ganze Weile, bis Lauscher fragte, wie lange das noch dauern solle. Aber das Rotkehlchen sagte nur: »Sei nicht so ungeduldig, sonst erreichst du nie dein Ziel. Komm mit!«
    Endlich gelangten sie auf diese Weise zu einer Stelle, an der die Hecke nur aus verdorrten, im Winter erfrorenen Schlehbüschen bestand, deren nadelspitze Dornen fast fingerlang überall aus dem dichten Verhau spießten. »Hier mußt du durch!« sagte das Rotkehlchen. »Einen anderen Weg gibt es nicht.«
    Lauscher tastete vorsichtig in das Dornengestrüpp hinein und stach sich dabei dermaßen in die Hand, daß sie an mehreren Stellen blutete. »Wie soll ich mich hier durchzwängen, wenn man nicht einmal hineingreifen kann, ohne sich die Hand aufzuspießen?« sagte er.
    »Du bist zu ängstlich«, sagte das Rotkehlchen. »Solange du nur daran denkst, was dir zustoßen könnte, erreichst du nie dein Ziel.
    Spring durch den Dorn,
    sonst ist alles verlorn!«
    Damit flatterte das Rotkehlchen davon und ließ sich nicht mehr herbeirufen.
    Lauscher untersuchte noch einmal die Hecke und war sicher, daß er sich das Fleisch von den Knochen reißen würde, wenn er versuchte, an dieser Stelle hindurchzuspringen. Aber er mußte hinüber auf die andere Seite und koste es sein Leben. Er entfernte sich also ein Dutzend Schritte von dem Dornengebüsch, kniff die Augen fest zu, nahm einen Anlauf und sprang.
    Im nächsten Augenblick war ihm, als schlügen Flammen über ihm zusammen, Farben explodierten vor seinen geschlossenen Augen, rote Bälle barsten wie Feuerwerk auseinander in einem Regen gelber, orangeroter und grüner Sterne und entfalteten sich zu riesigen Blüten von unbeschreiblicher Schönheit, die sich über den gesamten Himmel ausbreiteten, um dann an den äußersten Rändern langsam in gedämpften Tönen von Purpur und Violett zu verebben, und zugleich umhüllte ihn eine köstliche Wärme, als sei er aus dem kühlen Schatten belaubter Bäume plötzlich hinausgetreten auf eine sonnenüberflutete Wiese.
    Auf einer solchen Wiese lag er in der Tat, als er die Augen öffnete und seine Haut nach etwelchen Stichen und Rissen abtastete. Merkwürdigerweise hatte er nicht den geringsten Kratzer davongetragen, ja sogar die Wunden auf seiner Hand waren verheilt. Er stand auf und schaute sich die Hecke von dieser Seite aus an. Das sparrige Dickicht dürrer Schlehdornzweige schien so undurchdringlich wie zuvor und zeigte nicht die geringste Spur davon, daß er es eben an dieser Stelle durchquert hatte. Schließlich ließ er diese sonderbare Angelegenheit auf sich beruhen und sah sich danach um, wie es nun weitergehen sollte.
    Damit war es übel bestellt. Er stand auf einem schmalen Wiesenstreifen, hinter sich die Hecke und vor sich einen Wassergraben, der viel zu breit war, als daß er ihn hätte überspringen können, und jenseits des Grabens ragte eine mindestens zehn Klafter hohe Mauer aus groben Bruchsteinen auf. Dort mußte er hinüber, das wußte er. Es würde ein halsbrecherisches Unternehmen werden, über diese Mauer zu klettern, doch er würde es probieren, wenn er nur erst einmal drüben wäre.
    Um eine Stelle zu suchen, an der man über den Graben springen konnte, ging er ein Stück am Ufer entlang, aber der Graben war überall gleich breit, und so flach, daß man hindurchwaten konnte, schien er auch nicht zu sein. Selbst am Rand konnte man nicht den Grund ausmachen, obgleich das Wasser so klar war, daß man tief unten die dunkelgrünen Rücken gewaltiger Karpfen langsam dahintreiben sah. Während Lauscher noch im Gras saß und überlegte, wie er über diesen Graben gelangen könne, kam ein Strich Enten über den Himmel gezogen und fiel unmittelbar vor ihm ein. Das Wasser schäumte um die vorgestreckten Füße der Enten, und dann schaukelten sie sanft inmitten zahlloser sich ausbreitender und einander überschneidender Wellenringe auf der Wasserfläche. Es waren braungefiederte Wildenten und ein paar Erpel mit stahlblau schimmernden Spiegeln auf den Flügeln und einer zierlichen schwarzen Locke über dem Schwanz; zwischen ihnen schwamm aber auch eine schneeweiße Ente, die langsam auf

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