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Stein und Flöte

Stein und Flöte

Titel: Stein und Flöte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Bemmann
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schmäler wurden, bis er kaum noch die Fingerspitzen hineinpressen konnte. Schließlich mußte er sich eingestehen, daß er hier nicht weiterklettern konnte, wenn er nicht in die Tiefe stürzen wollte. Seine Hand konnte nicht die geringste Vertiefung mehr ertasten; denn die Steine waren hier auf den letzten drei Klaftern so genau aufeinandergepaßt, daß man kaum eine Messerklinge zwischen sie hätte schieben können.
    So stand er nun turmhoch über dem Wassergraben, klammerte sich mit den Fingerspitzen an winzige Griffe, krallte die Zehen in schmale Kanten und blickte hinauf zur Mauerkrone, als könne er sich allein durch die Kraft seines Blickes hinaufziehen oder durch die Kraft seiner Sehnsucht, die ihn dazu trieb, dieses Hindernis zu überwinden. Da sah er einen schwarzen Punkt, der im Wind leicht hin- und herpendelte. Dieser Punkt wurde größer, kam näher, zierliche Beinchen wurden erkennbar, und schließlich hing dicht über seinem Kopf eine prächtige Kreuzspinne. Sie ließ sich nicht weiter herab und schien ihn zu beobachten.
    »Du hast es gut«, sagte Lauscher, »spinnst deinen Faden und kannst daran nach Belieben hinauf- und hinunterklettern. Kannst du mir vielleicht sagen, wie ich über diese Mauer komme?«
    Die Spinne schwang sich an ihrem Faden an die Mauer heran und fand mit ihren tastenden Beinchen einen Ruheplatz in der Spalte zwischen zwei Blöcken. Dann wendete sie sich Lauscher zu und sagte: »Wenn du schon so höflich fragst, dann will ich dir einen Weg zeigen, zumal du solch ein armseliges Geschöpf bist, das weder Beine hat, die zum Klettern taugen, noch einen schönen, festen Faden zu spinnen verstehst. Ich werde dir also einen zweiten Faden spinnen, an dem du dich hinaufhangeln kannst. Wenigstens hast du ja zwei Hände zum Festhalten.« Ohne eine Antwort abzuwarten, klebte die Spinne ihren Faden an eine rauhe Stelle an der Mauer fest und flitzte wieder nach oben. Lauscher starrte ihr nach und wartete, aber die Spinne ließ sich nicht sehen. Er spürte, wie die Kraft in seinen Armen und Beinen nachließ und der Schwindel in seinem Kopf zu kreisen begann, »Spinne!« rief er. »Komm endlich zurück und hilf mir!«
    Da hörte er die Spinne von oben rufen: »Sei nicht so ungeduldig, sonst kommst du nie an dein Ziel!« Doch gleich darauf kehrte sie mit einem zweiten Faden zurück, den sie neben dem anderen befestigte, damit er nicht davongeweht wurde von dem kräftigen Wind, der hier oben blies.
    »Nun zieh dich hinauf!« sagte sie. Lauscher schien es unglaublich, daß dieses haarfeine, gläsern schimmernde Ding ihn tragen sollte. Vorsichtig zupfte er an dem Faden, den sich die Spinne zuerst gesponnen hatte. Das Gespinst riß sofort ab, und als er es von seiner Haut lösen wollte, zerging es wie Staub zwischen seinen Fingerspitzen. »Dieses Ding soll mich tragen?« sagte er. »Das kann man ja nicht einmal anfassen, ohne es zu zerreißen!«
    »Was du da eben zerrissen hast, war mein Faden, nicht deiner!« sagte die Spinne ungehalten. »Du bist zu ängstlich. Solange du nur daran denkst, was dir zustoßen könnte, erreichst du nie dein Ziel.
    Vertrau meinem Faden,
    du kommst nicht zu Schaden!«
    Damit überließ sie ihn einem Schicksal und glitt rasch am Rest ihres zweiten Fadens nach oben außer Sicht.
    Lauscher spürte, daß er sich so oder so nicht mehr lange würde halten können. Schon zitterten ihm die Knie, die Zehen begannen sich zu verkrampfen, und der ständig zunehmende Wind zerrte an seinen Kleidern und drohte ihn von der Mauer zu blasen. In dem Bewußtsein, daß er im nächsten Augenblick unweigerlich in die Tiefe stürzen würde, griff er nach dem Faden, der für ihn bestimmt war, und ließ jeden anderen Halt fahren.
    Der Wind trieb ihn sofort von der Mauer weg, und er schwebte leicht wie eine Flaumfeder über der Tiefe, einzig gehalten von dem kaum sichtbaren Faden, der ihn mit der Mauerkrone verband, sich elastisch spannte und im Wind sang wie die Saite einer Geige, eine süße, schwerelose Melodie, die seinen ganzen Körper zum Schwingen brachte und ihn trug, und er ließ sich tragen wie ein Drachen im Wind, es gab nicht länger oben und unten, Erde und Himmel umkreisten ihn, in tausendfachen Schattierungen von Grün flirrte das Laub der Wälder, bis der Himmel sich wieder in sein Gesichtsfeld drehte in allen Abstufungen von lichtem Blau bis zu sattem Azur, das sich bald wieder im unergründlichen Wasser des Grabens bis zu dunklem Violett brach, ein Farbenkreis, in dessen Mitte er

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