Stein und Flöte
schwebte, hingegeben dem süßen Singen der schwingenden Saite, deren Instrument er selbst war; denn er sang es nun mit, dieses Lied des Windes, und füllte mit seiner Stimme den kreisenden Raum, und in diesem Lied wuchs seine Sehnsucht, über diese Mauer zu gelangen, so daß er sich Hand über Hand emporzog, bis er die steinerne Kante packen und sich rittlings auf die Mauerkrone setzen konnte.
So saß er nun in luftiger Höhe und schaute hinunter auf einen herrlichen Garten, der so groß war, daß er ihn selbst von hier aus nicht in seiner gesamten Ausdehnung überblicken konnte. Da gab es unmittelbar unter ihm weite, von hellen Kieswegen umrahmte Rasenflächen, an deren Rändern Gruppen von Büschen und hohen Bäumen unterschiedlichster Art standen, belaubt bis hinab zum Boden, und manche von ihnen spiegelten sich im klaren Wasser kleiner Teiche und gewundener Bachläufe, über die zierliche Stege führten. Jenseits der Grünflächen leuchteten Blumenbeete, deren Bepflanzung sich zu phantastischen Ornamenten ordnete; die Wege waren hier streckenweise von Spalierbögen überwölbt, über die Kaskaden rot und gelb blühender Kletterrosen herabhingen, und führten an Lauben vorüber, deren Dach verborgen war unter wuchernden Glyzinien mit blaßblauen Blütentrauben. Hinter diesem Bereich der Blumen schloß sich ein Labyrinth beschnittener Eiben- und Buchsbaumhecken an, zwischen denen hie und da die hellen Glieder marmorner Figuren schimmerten, doch dieser Teil des Gartens war schon so weit entfernt, daß man kaum noch Einzelheiten erkennen konnte. Alle Wege schienen dort in einem verschlungenen Knäuel auf eine Mitte zuzulaufen, deren Inneres von hohen Hecken verdeckt war. Dorthin war er unterwegs, das wußte er jetzt. Aber zunächst mußte er erst einmal von dieser Mauer, die noch die höchsten Bäume überragte, hinunter auf den Boden gelangen.
Zum Glück schien dies wesentlich leichter zu sein als der Aufstieg. An der Gartenseite war die Mauer mit Efeu bewachsen, dessen armstarke Ranken sich in Jahrzehnten, vielleicht sogar in Jahrhunderten bis hinauf zur Mauerkrone vorgearbeitet und mit unzähligen Haftwürzelchen in jeder Spalte und Fuge zwischen den Steinen festgekrallt hatten. Dennoch packte ihn der Schwindel, als er über das dunkelgrüne, glänzende Laub zehn Klafter tief hinunterblickte, und er fand nicht den Mut, seinen sicheren Sitz zu verlassen.
»Hast du schon wieder Angst?« sagte eine Stimme zu ihm, und als er nach dem Sprecher ausschaute, entdeckte er die Kreuzspinne, die auf dem obersten Efeublatt saß. »Du solltest dich auf den Weg machen«, sagte sie. »Weißt du nicht, daß du erwartet wirst?«
Als er das hörte, faßte er sich ein Herz und ließ sich vorsichtig über die Mauerkante gleiten, bis seine Füße einen Halt fanden. Dann griff er nach einer kräftigen Ranke, die sich an die Mauer geschmiegt hatte wie ein riesiger Tausendfüßler, und begann den Abstieg. Es war leichter, als er zu hoffen gewagt hatte. Je tiefer er kam, desto üppiger wucherte der Efeu, so daß er bald unter einem dichten Blätterdach wie durch einen dämmrigen Schacht von Ranke zu Ranke hinabkletterte. Mit jedem Schritt, der ihn dem Boden näher brachte, klopfte in seinem Herzen der Satz ›du wirst erwartet‹, und das trieb ihn zu solcher Eile an, daß er schließlich einen Tritt verfehlte und rauschend durch Rankengewirr und Blätter in die Tiefe stürzte. Glücklicherweise geschah dies nicht mehr sonderlich hoch über dem Rasen, so daß er sich nichts brach. Während er noch etwas benommen am Fuß der Mauer saß, hörte er oben im Efeu ein Lachen, und dieses Lachen klang gar nicht nach einer Spinne, sondern wie das Lachen einer Frau.
Da stand er auf, klopfte sich Staub und Spinnweben aus den Kleidern und ging hinein in den Garten. Vom Boden aus sah er jetzt nur noch die weiten Rasenflächen mit dem Buschwerk und den schönen Bäumen. Während er auf eine Gruppe turmhoher, wie dunkelgrüne Flammen emporlodernder Zypressen zulief, schoben sich schon wieder breit ausladende Blutbuchen ins Blickfeld, deren unterste Zweige den Boden streiften; es gab hier hochstrebende Platanen und Ulmen, eine riesige Weide, die ihre dünnen Zweige in sanften Bogen trauernd herabhängen ließ, und viele andere seltsame Bäume und Büsche, die er im Leben noch nie gesehen hatte. Er sprang in weiten Sätzen auf einem gewölbten Steg über einen von Schilf und Binsen gesäumten Wasserlauf und kam zu einem Teich, auf dem die Seerosen in
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