Stein und Flöte
Meister der Töne. »Zunächst möchte ich mich mit dir über deine Musik unterhalten; denn einen solchen Flöter wie dich hatte ich bisher noch nie zu Gast.« Er bot Lauscher einen Sessel an und setzte sich ihm gegenüber. Lauscher fand jetzt Gelegenheit, sich in dem Zimmer umzusehen. In Regalen an der Wand wie auch auf Tischen und Truhen lagen allerlei große und kleine Flöten und andere Blasinstrumente, aber auch Fiedeln und Hackbretter sowie eine kleine Handharfe. »Spielst du alle diese Instrumente?« fragte er.
»So gut ich kann«, sagte der Meister der Töne mit der Beiläufigkeit eines Mannes, der es nicht nötig hat, sich mit seinen Fähigkeiten zu brüsten. »Erlaubst du mir, daß ich deine Flöte ansehe?«
Lauscher reichte sie ihm hinüber, und der Magier betrachtete sie genau. »Mir ist schon während deines Spiels aufgefallen«, sagte er, »daß du deine Melodien auf einer Tonleiter von sieben Tönen aufbaust, zwischen die du manchmal sogar noch weitere Zwischentöne einschiebst. Entsprechend sind auch die Grifflöcher auf deiner Flöte angeordnet. Unsere Musik kommt mit nur fünf Grundtönen aus.« Er nahm die Handharfe vom Tisch auf und spielte die gleiche Tonfolge, die Lauscher schon beim Eintreten gehört hatte, und entwickelte daraus eine Melodie, die er rhythmisch zu variieren begann. Sein Spiel nahm Lauscher sofort gefangen; er vergaß den Ort, an dem er sich befand, nahm den Raum und dessen Gegenstände kaum noch wahr, nicht einmal diesen Meister der Töne, sondern hörte nur noch diese Melodie, die sich wie von selbst nach einem ihr innewohnenden Gesetz entfaltete. Ihm war zumute, als betrachte er einen sich drehenden Kristall, der im Verlauf seiner Bewegung ständig neue, andere Facetten zeigte und dennoch in seiner vollkommenen Form unverändert blieb. Diese Empfindung erlaubte kein Ausweichen in andere Bereiche, keine Flucht; er war allein mit sich selbst, eingefügt in dieses rings um ihn ausgespannte Gehege von Tönen, hatte keinen Willen mehr, irgend etwas zu bewirken oder zu ändern; denn in diesem klingenden Gehäuse bestand keine Notwendigkeit dazu. Und selbst dann noch, als die Melodie verstummt war, trat nicht der Augenblick der Ernüchterung ein. Er konnte gar nicht eintreten, weil diese Musik selbst der Ausdruck absoluter Nüchternheit war. Sie unterwarf den Hörer nicht einem fremden Willen, sondern führte ihn zu sich selbst, und als Lauscher dies bewußt wurde, erkannte er auch, daß dies das Geheimnis im Spiel seines Großvaters gewesen war und daß er selbst mit seiner Art, die Flöte zu benutzen, die entgegengesetzte Richtung eingeschlagen hatte. Seit er die Flöte besaß, hatte er immer versucht, seine Zuhörer zu beeinflussen und ihre Gedanken in jene Richtung zu lenken, die zu seinem eigenen Nutzen führte, und er würde dies wohl auch weiterhin tun müssen, wenn er das Ziel seiner Wünsche erreichen wollte. Die Musik, die der Meister der Töne auf seiner Harfe gespielt hatte, war zwar schön, ja auf ihre Weise vollkommen, aber sie erschien ihm zugleich nutzlos. Er hätte den Magier jetzt gern gefragt, welchen Sinn er in seinem Spiel sehe, aber da entdeckte er, daß dieser den Raum inzwischen verlassen hatte.
Lauscher stand auf und betrachtete die Instrumente an den Wänden und auf dem Tisch, nahm eine Flöte auf und probierte ihren Klang. Auch dieses Instrument war durch die Anlage seiner Grifflöcher auf fünf Grundtöne beschränkt. Sobald er den Versuch machte, in eine andere Tonart abzuschweifen, zerbrach seine Melodie, und er begriff, daß er diese Flöte nicht unter seinen Willen zwingen konnte. Solange er sich jedoch ihrem Gesetz unterwarf, gelang es ihm, ähnliche Klanggebäude aufzubauen, wie sie der Magier auf seiner Harfe entworfen hatte. Er versuchte sich in diesem Spiel, spann sich ein in ein Netz von Tönen, doch als er dann der Lockung folgte, dieses Muster bewußt zu verändern, brach alles wieder zusammen.
»Du bist zu ungeduldig!« sagte der Meister der Töne hinter ihm. »So lange du nicht bereit bist, dich den Regeln zu fügen, wirst du nicht die wahre Vollkommenheit finden.«
Lauscher drehte sich um und sah, daß der Magier zusammen mit einem anderen Würdenträger zurückgekommen war, einem schwarzhaarigen Mann mittleren Alters in einem leuchtendroten Gewand. Die beiden hatten ihm wohl schon eine Zeitlang zugehört. Lauscher legte die Flöte beiseite, stand auf und sagte: »Verzeih mir, daß ich deine Ohren beleidigt habe.«
Der Magier
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