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Stein und Flöte

Stein und Flöte

Titel: Stein und Flöte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Bemmann
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Arnis Leuten, den ich fragte, was Narzia gewollt habe, sagte mir, sie habe nach einer goldenen Reiterfibel gefragt, die sie bei den Schmucksachen vermißt habe. Wenn dieses Stück beim nächsten Mal nicht dabei sei, würde sie keine Handvoll Korn mehr hergeben.«
    »Narzia muß den Verstand verloren haben«, sagte der Alte. »Ich habe von der Fibel gehört. Khan Hunli hat sie von der weisen Urla bekommen, und zwar damals, als sie Arni den Augenstein gab, von dem jetzt keiner mehr recht weiß, wo er sich befindet. Arnis Leute machen zwar ein Geheimnis draus, aber es wird auch darüber geredet, daß er verschwunden sein soll.«
    »Der Augenstein!« rief Steinauge, sprang auf und griff nach dem Beutel an seinem Hals. Er hatte alle Vorsicht vergessen, als er hörte, wie der Stein erwähnt wurde, den er bei sich trug und der ihn auf geheimnisvolle Weise mit einem Leben verband, von dem er nichts mehr wußte. »Was weißt du von dem Augenstein?« fragte er und merkte gar nicht, wie er in seiner Erregung diese Worte herausschrie. Erst dann sah er das panische Entsetzen in den Augen der beiden Hirten. Sie starrten ihn an, diesen nackten, haarigen Tiermann, dem ein Wiesel auf der zottigen Hüfte saß und ihnen eher erschrocken als zornig entgegenfauchte. Erschrocken waren sie allesamt, auch Steinauge, sobald ihm bewußt wurde, daß er in einem Augenblick der Erregung sein Versteck verlassen und sich den beiden Männern gezeigt hatte. Eine Zeitlang standen sie reglos einander gegenüber, als könne jede Bewegung etwas Schreckliches auslösen. Dann warfen sich die Hirten unversehens nieder, berührten mit der Stirn den Boden und stammelten etwas dergleichen, daß der Waldmann sie verschonen solle. Der Ältere von ihnen kroch, immer noch tief gebückt, zur Seite, tastete, ohne den Bocksfüßigen aus den Augen zu lassen, nach seinem Hirtensack, brachte ein Fladenbrot und einen runden Bauernkäse zu Tage und legte beides wie eine Opfergabe zu Füßen Steinauges nieder. Dann rutschten die Hirten auf Händen und Knien zu ihrem Platz zurück. Erst als sie den dicken Baumstamm zwischen sich selbst und der erschreckenden Zwittergestalt wußten, packten sie ihre Sachen und rannten über die Wiese davon, als seien Wölfe hinter ihnen her.
    Steinauge ärgerte sich über seine Unbesonnenheit, ohne die er wahrscheinlich noch mehr über den Augenstein erfahren hätte. In diesem Stein, dessen war er jetzt sicher, mußte jener Teil seines Lebens eingeschlossen sein, der in seinem Gedächtnis verschüttet war. Er setzte sich ins Gras, nahm den Stein aus dem Beutel und schaute ihn an. Unter der glattgeschliffenen Oberfläche brach sich das Sonnenlicht in feinen, faserigen Trübungen und ließ dadurch die grünen, blauen und violetten Kreise aufleuchten, deren Farbe und Ausdehnung sich änderte, je nachdem, wie man den Stein drehte. Er betrachtete das Spiel der Ringe und wartete darauf, daß sich, wie schon früher, ein Bild herauslöse, ein Gesicht etwa, das er kannte, ohne sagen zu können, ob er dieser Frau schon einmal begegnet war und wo das gewesen sein mochte. Aber nichts dergleichen geschah. Der Stein verbarg sein Geheimnis, wenn der Bocksfüßige jetzt auch mit Sicherheit zu wissen meinte, daß es ein solches Geheimnis gab und daß dieses Geheimnis etwas mit ihm selbst zu tun haben mußte. Wieder einmal war von einer alten Frau die Rede gewesen, die den Stein einmal besessen hatte. Urla hatte der Hirte sie genannt. Steinauge lauschte dem Klang dieses Namens nach, der ihm auf ähnliche Weise vertraut schien wie der Schimmer seines Steins, und sein Ärger verflog, je länger er in das sanfte Leuchten schaute und dabei spürte, wie die Schönheit der Farben auf eine tröstliche Weise sein Herz wärmte.
    »Dein Stein ist wirklich ein großes Zauberding«, sagte das Wiesel. »Jetzt hat er dir sogar etwas zu essen verschafft.«
    Diese bemerkenswert prosaischen Worte brachten Steinauge in eine Wirklichkeit zurück, die ihm blaß und banal erschien gegenüber jener anderen Wirklichkeit, in die er durch das steinerne Auge geblickt hatte, ohne allerdings etwas davon zu begreifen. Jedenfalls erschien ihm diese Äußerung Nadelzahns höchst unangemessen, und er sagte: »Eßbare Dinge sind wohl das höchste, was du dir vorstellen kannst?«
    Das Wiesel schien den Tadel, der in dieser Frage lag, nicht zu bemerken und sagte gleichmütig: »Essen ist immer eine wichtige Sache, wenn man am Leben bleiben will«, und wenn es seiner Art gemäß gewesen

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