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Stein und Flöte

Stein und Flöte

Titel: Stein und Flöte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Bemmann
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wäre, hätte es dabei wohl mit den Schultern gezuckt. »Außerdem habe ich bei dieser Feststellung nicht an mich gedacht«, fuhr es fort, »denn ich finde dieses Zeug, das der Hirte ins Gras gelegt hat, nicht sonderlich appetitanregend. Aber ich könnte mir vorstellen, daß es dir schmeckt.«
    Jetzt nahm Steinauge die Opfergabe des Hirten endlich in Augenschein. Der Anblick der braunen, knusprig gebackenen Brotrinde weckte die Erinnerung an einen lange Zeit entbehrten Geschmack. Steinauge steckte den Stein an seinen Platz, hob den Brotlaib auf und brach ihn auseinander. Als er den süßen, mehligen Duft roch, überfiel ihn ein wahrer Heißhunger, und er hatte das Brot schon zur Hälfte verschlungen, ehe ihm einfiel, daß er auch noch ein Stück Käse dazu essen könnte.
    An den folgenden Tagen suchte Steinauge diesen Platz immer wieder auf, in der Hoffnung, wieder ein Gespräch der Hirten belauschen zu können und dabei noch mehr über den Stein zu erfahren oder über andere geheimnisvolle Dinge, die damit zusammenhingen, aber er traf die Männer nie an. Dafür fand er dort täglich ein Brot und etwas Zuspeise vor, ein Stück Speck etwa, eine Scheibe Dörrfleisch oder wieder einen Käse. Auf diese Weise wurde sein Speisezettel etwas abwechslungsreicher, zumal Steinauge auch weiterhin die Jagdbeute des Wiesels nicht ablehnte, allein schon, um seinen Freund nicht zu beleidigen.
    Im übrigen streifte der Bocksfüßige unruhig durch die Wälder und hielt sich dabei stets in der Nähe des offenen Talbodens. »Was suchst du eigentlich hier?« fragte ihn das Wiesel einmal, aber er wußte keine Antwort auf diese Frage. Die Eicheln begannen schon dick zu werden, und auf den Wiesen verblühten die Sommerblumen, aber Steinauge blieb noch im Tal, und er war voller Unrast, als müsse er auf etwas warten.
    Während das Wiesel eines Morgens auf der Jagd war und er wieder einmal ziellos am Waldrand entlangtrottete, immer im Schutz des Buschwerks, wie es seine Gewohnheit war, sah er draußen in der Talmitte ein Mädchen, fast noch ein Kind, das am Bach entlanglief. Er blieb stehen und beobachtete, wie die schmale Gestalt sich zwischen den hochstehenden Wiesen bewegte, manchmal weiter entfernt und dann wieder näher, je nachdem, wie sie den geschwungenen Windungen des Baches folgte.
    Der Lauf des Baches führte das Mädchen schließlich geradewegs auf jene Stelle zu, an der sich Steinauge im Unterholz verbarg, das schmale, kindliche Gesicht wurde immer deutlicher erkennbar, und plötzlich wurde sein Blick von den dunklen Augen gefangen, aus denen das Mädchen zum Wald herüberschaute, Augen von merkwürdiger, schwer zu beschreibender Farbe, deren Blick ständig auf ihn gerichtet zu sein schien, und er wußte zugleich, daß er nicht zum ersten Mal diesen Augen begegnete, die auf eine sonderbare Weise nahe und zugleich weit entfernt zu sein schienen. Hie und da beugte das Mädchen sich nieder und streifte mit der Hand durchs Wasser, und als es zu der Stelle kam, wo der Bachlauf sich wieder der Talmitte zuwendete, setzte es sich auf die Uferböschung, ließ die Beine in die Strömung hängen und blickte über das Bachbett hinweg herüber zum Wald. Eine Zeitlang blieb es so sitzen und ließ das Wasser um seine Knöchel strudeln. Und dann fing das Mädchen an zu singen. Die dunkel getönte Stimme erinnerte ihn an den Klang einer Flöte, die in der tiefen Lage gespielt wird, und er verstand jedes einzelne Wort des Liedes, als sei ihm der Text schon seit langem vertraut.
    Ein Mädchen ging zum See
    jedes Jahr,
    ein Mädchen ging zum See
    mit Wangen weiß wie Schnee.
    Der Grüne kam vom Grund
    jedes Jahr,
    der Grüne kam vom Grund
    und küßt es auf den Mund.
    Das Mädchen weinte sehr
    jedes Jahr,
    das Mädchen weinte sehr
    und kam dann nimmermehr.
    Schön Agla ging zum See
    dieses Jahr,
    Schön Agla ging zum See
    in Kleidern weiß wie Schnee.
    Der Grüne kam vom Grund
    dieses Jahr,
    der Grüne kam vom Grund,
    sie küßt’ ihn auf den Mund.
    Schön Agla hat gelacht
    dieses Jahr,
    Schön Agla hat gelacht
    da sang er durch die Nacht.
    Hier war das Lied zu Ende, das wußte der Lauscher im Gebüsch, und dennoch sang das Mädchen weiter und fügte noch eine Strophe hinzu:
    Der Flöter hat’s gespielt
    letztes Jahr,
    der Flöter hat’s gespielt
    der nie mehr bei uns hielt.
    Und dann fing das Mädchen an, in einer Sprache zu rufen, die anders klang als die Wörter, die Menschen sonst gebrauchen, aber auch diese Sprache konnte Steinauge

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