Stein und Flöte
Flöter oder Liedermann.«
»Ich habe nichts anderes erwartet«, sagte Rinkulla. »Aber wenn du im Frühsommer wieder hinaus in die Wälder gehst, solltest du vielleicht versuchen, dir eine Flöte zu schnitzen. Ein Messer hast du ja.«
Steinauge bedankte sich für den guten Rat, und dies nahm Rinkulla offenbar für ein Zeichen der Verabschiedung; denn sie verneigte sich und sagte: »Für heute habe ich dich lange genug vom Schlaf abgehalten. Auf Wiedersehen irgendwo beim Wasser, und achte auf deinen Stein!« Nach diesen Worten glitt sie hinüber zum Höhlenbach und verschwand im Dunkel.
Der Mäuserich war dem Gespräch aufmerksam gefolgt und sagte nun: »Es ist ein Glück, daß ich nicht gewußt habe, unter wessen Schutz du stehst, sonst hätte ich mich nie in deine Höhle gewagt, wäre weiterhin namenlos geblieben und hätte dich nicht zum Freund gewonnen. Wenn du meiner Dienste bedarfst, kannst du mich mit einem bestimmten Pfiff herbeirufen.«
»Soweit du dich in der Nähe aufhältst«, sagte Steinauge lächelnd.
»Nicht nur dann«, sagte der Mäuserich. »Überall gibt es Mäuse, und Nachrichten werden bei uns sehr rasch weitergegeben. Wer meinen Pfiff hört, wird mir schon Bescheid geben lassen. Gib acht!« und dann pfiff der Mäuserich einen hellen Dreiklang, der Steinauge so vertraut war, daß er ihn sogleich nachpfiff.
»Ausgezeichnet!« sagte der Mäuserich. »Gute Nacht, Träger des Steins! Und vielen Dank für die Nüsse!«
»Auch dir eine gute Nacht, ›Der-mit-der-Schlange-spricht‹«, sagte Steinauge. »Und nimm dich in acht vor dem Falken!«
»Das solltest auch du tun«, sagte der Mäuserich, machte eine zierliche Verbeugung und huschte über den Höhlenboden davon.
Steinauge legte sich auf sein Lager und pfiff zum Abschied noch einmal diesen Dreiklang. Gleich darauf hörte er, fern, aber deutlich, die Antwort seines neuen Freundes. Und in diesem Augenblick fiel ihm ein, woher er diesen Pfiff kannte: Er hatte unter einem Baum gesessen, und vor ihm auf einem niedrigen Ast saß eine Amsel und pfiff die gleiche Tonfolge, die ihm noch in den Ohren klang. Er wußte auch, daß es nicht irgendeine beliebige Amsel gewesen war, sondern die Botin des Sanften Flöters, seines Großvaters, zu dem er unterwegs gewesen war durch die unermeßlichen Wälder von Barleboog. All das tauchte jetzt klar und deutlich in seiner Erinnerung auf: wie er Gisa getroffen und auf ihrem Schloß gelebt hatte, die ganze Geschichte mit Barlo, der durch seine Schuld die Sprache verloren und durch die Kunst des Sanften Flöters auf eine neue Art wiedergewonnen hatte und daß er danach mit Barlo drei Jahre lang durch die Lande gezogen war. Dabei hatte er zum ersten Mal das Lied vom Grünen gehört, und der Grüne hatte ihnen zweimal geholfen, bis sie endlich zusammen mit vielen fröhlichen Leuten die Wölfe besiegt und Gisa aus dem hohen Schloß von Barleboog vertrieben hatten.
»Also bin ich der Enkel des Sanften Flöters«, sagte er halblaut vor sich hin. »Hast du das gehört, Zirbel?«
Da regte sich neben ihm der Zirbel und sagte: »Du hast wohl deine Ameise gefunden?«
»Meine Ameise war eine Maus«, sagte Steinauge. »Also weißt du jetzt, wer du bist«, sagte der Zirbel.
»Ja«, sagte Steinauge. »Ich kann mich an meinen Großvater erinnern, an meine Mutter, die seine Tochter ist, und an meinen Vater, den Großen Brüller. Ich meine auch, daß ich zu dieser Zeit einen anderen Namen hatte, aber der will mir nicht einfallen.«
»Warst du damals ein Flöter?« fragte der Zirbel.
Steinauge dachte eine Weile nach. Dann zuckte er mit den Schultern und sagte: »Mein Großvater war ein Flöter, und ich bin lange Zeit mit einem Flöter durch die Lande geritten, und zwar mit zwei richtigen Menschenbeinen rechts und links vom Sattel, aber ob ich selber ein Flöter gewesen bin, weiß ich ebensowenig wie ich mich nicht erinnern kann, auf welche Weise ich zu diesen Bocksfüßen gekommen bin.«
»Sei nicht so ungeduldig«, sagte der Zirbel. »Ein Stück von deiner verlorenen Zeit hast du ja schon gefunden. Hattest du damals schon deinen Stein?«
»Ja«, sagte Steinauge, »mit diesem Stein hat alles angefangen. Arni, der Bruder des Khans der Beutereiter, hat ihn mir gegeben, als er starb. Er hatte ihn von einer alten Frau bekommen, die im Gebirge wohnte.«
»Diese Frau habe ich gekannt«, sagte der Zirbel. »Als sie noch jünger war, hat sie einmal unter meinen Zweigen gerastet; denn ich war damals schon ein mächtiger Baum. Den
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