Stein und Flöte
Augen und schaute zu der Stelle, wo er seinen Freund vermutete. Da sah er ganz nahe zwischen den Holunderstauden das Mädchen stehen. Ihre Augen waren weit aufgerissen, als sei sie erschrocken, aber sie lief nicht davon, rührte sich nicht von der Stelle, sondern blickte ihn mit ihren merkwürdigen Augen an. Eine lange Zeit schwiegen beide. Dann sagte das Mädchen: »Also bist du doch der Flöter?«
Steinauge wies ihr wortlos sein Instrument vor, als könne er dadurch ihre Frage beantworten.
»Damals hattest du eine andere Flöte«, sagte das Mädchen.
Steinauge zuckte mit den Schultern und sagte: »Ich weiß nicht, was damals gewesen ist.«
»Damals warst du fröhlich und wußtest viele lustige Geschichten«, sagte das Mädchen.
»Jetzt ist mir nicht mehr nach Lachen zumute«, sagte Steinauge, »und auch von diesen Geschichten weiß ich nichts mehr.«
Da fing das Mädchen an zu weinen und rief: »Was ist mit dir geschehen, Flöter, daß du so aussiehst?« und schlug die Hände vors Gesicht.
»Auch das kann ich dir nicht sagen«, sagte Steinauge und stand auf in dem Wunsch, das Mädchen auf irgendeine Weise zu trösten. Doch sobald es hörte, daß er auf seinen Bocksfüßen zu ihm herüberkam, ließ es die Hände sinken und wich zurück. Steinauge sah, wie das aufsteigende Grauen die unbeschreibbare Farbe seiner Augen verdunkelte, er sah, wie das Mädchen seinen zottigen Körper mit mühsam verhaltenem Abscheu betrachtete, und als er unmittelbar vor ihm stand, schrie es: »Rühr mich nicht an!« Und dann kehrte es sich um, schlug sich durchs Gebüsch und lief wie gehetzt davon.
»Ich wollte dich nicht erschrecken!« rief Steinauge ihm nach, aber das hörte es wohl schon nicht mehr, sondern rannte ins Freie, flog über die Wiesen bis hinüber zu den Pferden, bei denen sein Pony stand, sprang auf und galoppierte talabwärts auf die Hütten zu. Steinauge blickte ihm nach, bis er es aus den Augen verlor. Dann setzte er sich wieder auf den Baumstumpf und sagte: »Siehst du, Zirbel, nun ist das Mädchen mir wieder davongelaufen, ohne daß ich etwas erfahren habe.«
»Was hast du denn erwartet?« sagte der Zirbel. »Mädchen in diesem Alter sind nun einmal etwas schreckhaft. Ist dir wenigstens sein Name eingefallen?«
»Nein«, sagte Steinauge.
»Dann vielleicht im nächsten Jahr«, sagte der Zirbel gleichmütig, als komme es auf ein Jahr mehr oder weniger überhaupt nicht an. Doch Steinauge wollte für diesmal die Hoffnung noch nicht aufgeben. Rastlos streifte er mit Nadelzahn durch die Wälder an den Rändern des Tals, kam dabei bis hinunter zu einer Stelle, an der der Bach in eine enge Schlucht hinabrauschte, kehrte wieder um und beobachtete tagelang die Behausungen der Hirten. Aber das Mädchen bekam er nicht mehr zu Gesicht, so daß er sich schließlich fragte, ob es sich überhaupt noch in diesem Tal aufhielt. Seine Weidenflöte hatte er längst weggeworfen; denn die vertrockneten Rohre hatten sich verzogen und gaben keinen klaren Ton mehr. Darüber begann sich das Laub der Buchen zu färben, die Brombeeren reiften, und der Wald roch nach Pilzen.
»Wenn du den Winter wieder bei deinen Ziegen verbringen willst, dann wird es Zeit, daß wir uns auf den Rückweg machen«, sagte Nadelzahn eines Morgens. Steinauge hatte zu diesem Zeitpunkt längst keine Hoffnung mehr, das Mädchen noch einmal zu treffen; nur eine lähmende Entschlußlosigkeit hatte ihn so lange in diesem Tal festgehalten. Er nickte dem Wiesel wortlos zu, und dann stiegen sie den Weg durch den Wald hinan, auf dem sie im Frühsommer ins Tal gewandert waren.
Sie hatten erst eine kurze Strecke hinter sich gebracht, als das Wiesel unvermittelt stehenblieb und flüsterte: »Da kommt uns jemand entgegen. Rasch ins Gebüsch!«
Sie suchten sich eilig ein Versteck, und als Steinauge hier still am Boden hockte und lauschte, vernahm auch er, wie von Zeit zu Zeit ein dürrer Zweig knackend unter einem Tritt zerbrach, dann das dumpfe Tappen von Hufen auf dem weichen Waldboden, und schließlich hörte er Stimmen. Offenbar waren es zwei Männer, die ins Tal hinabritten. Sie kamen rasch näher, und bald konnte man sie zwischen den Stämmen sehen. Der eine war ein hochgewachsener, bärtiger Mann, der wohl zu denselben Leuten gehörte wie die Hirten; der andere jedoch fesselte sofort Steinauges Aufmerksamkeit. Es war ein ziemlich alter, kleinwüchsiger Mann mit einem merkwürdig flachen Gesicht und fliehendem Kinn; über seine Mundwinkel hing ein dünner,
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