Stein und Flöte
auch den Stein aus dem Schnabel verloren. Steinauge sah ihn blitzend herabfallen und irgendwo weiter oben in die Bergwiese tauchen.
Der Falke unternahm keinen Versuch, den Stein zurückzugewinnen, sondern kämpfte jetzt um sein Leben. Da er durch nichts mehr behindert war, gelang es ihm, sich Raum zu schaffen. In einer steilen Spirale stieg er in den Himmel und zog dann so schnell nach Osten davon, daß die Dohlen die Verfolgung aufgaben, noch eine Weile aufgeregt um die Bergkuppe kreisten und sich dann wieder auf der Eberesche niederließen.
Steinauge versuchte sich die Stelle einzuprägen, wo der Stein ins Gras gefallen sein mußte, aber es war ihm natürlich völlig unmöglich, aus dem Schatten der Bäume auf die Bergwiese hinauszulaufen und nach dem Kleinod zu suchen. Gleich darauf kehrte das Wiesel zurück. Es legte ein graugefiedertes Steinhuhn auf den Lagerplatz und fragte, was dieses lärmende Dohlengeschrei zu bedeuten habe. Steinauge berichtete ihm, was inzwischen geschehen war, und bat es, den Stein oben am Hang zu suchen.
Obgleich er den Platz, an dem seiner Meinung nach der Stein liegen mußte, so genau wie möglich beschrieben hatte, kehrte das Wiesel nach einiger Zeit unverrichteter Dinge zurück. »Der Stein kann sonstwohin gerollt sein«, sagte es. »Allein würde ich Wochen brauchen, um unter jedes Grasbüschel und hinter jeden Stein zu schauen. Vielleicht sollte ich drei oder vier Vettern, die hier in der Gegend hausen, um Hilfe bitten.«
»Da weiß ich etwas Besseres«, sagte Steinauge, holte seine Weidenflöte aus der Tasche und blies eine aufsteigende Folge von drei Tönen, die er mehrmals wiederholte.
»Was soll das helfen?« fragte das Wiesel. »Meinst du, dann kommt dein Stein von selber zu dir?«
»Der Stein nicht«, sagte Steinauge, »aber ich hoffe, daß mein Freund ›Der-mit-der-Schlange-spricht‹ mir mit seinem Volk zu Hilfe kommt. Du erinnerst dich wohl noch an dein Versprechen, was Mäuse betrifft?«
»Mäuse!« sagte das Wiesel geringschätzig. »Was sollen die denn schon nützen?«
»Warte ab!« sagte Steinauge nur.
Sie mußten in der Tat ziemlich lange warten. Obwohl Steinauges Abneigung gegen diesen Ort sich eher noch verstärkt hatte, blieben sie den ganzen Tag über an ihrem Lagerplatz, ohne daß etwas geschah. Steinauge rupfte währenddessen das Steinhuhn, am Abend bekam jeder seinen Teil davon, und dann legten sie sich schlafen.
Im Morgengrauen wurde Steinauge davon geweckt, daß ihn etwas am Ohrläppchen zupfte. Als er danach tastete, streifte seine Hand etwas Kleines, Pelziges, und eine feine Stimme flüsterte: »Du hast mich gerufen, Träger des Steins, und ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte.«
»Ach, du bist das, ›Der-mit-der-Schlange-spricht‹«, sagte Steinauge, ohne seine Stimme sonderlich zu dämpfen. Da zischte ihm der Mäuserich zu: »Sprich leise! Dicht neben dir lauert ein Wiesel!«
Steinauge lachte laut heraus und sagte: »Das ist mein Freund Nadelzahn. Er hat mir versprochen, keiner Maus etwas zu tun!«
Der Mäuserich schien das zu bezweifeln und flüsterte: »Kann man das einem Wiesel glauben?«
Jetzt mischte sich Nadelzahn in das Gespräch und fragte nicht ohne einen drohenden Unterton in der Stimme: »Zweifelst du an meinen Worten, Mäuserich?«
»Nichts liegt mir ferner!« beeilte sich der Mäuserich zu versichern. »Nur waren meine Erfahrungen mit Wieseln bisher anderer Art.«
»Ich mag keine Mäuse«, sagte Nadelzahn kurz. »Wenn du mit einer Schlange gesprochen hast, wie man sagt, dann wirst du dich doch nicht vor einem Wiesel fürchten. Ein solcher Name schafft gewisse Verpflichtungen.«
»Da magst du recht haben«, sagte der Mäuserich. »Ich begreife jetzt auch, daß es zuweilen gar nicht so leicht ist, einen ehrenvollen Namen zu tragen.« Dann gab er sich einen Ruck und fügte mit bemerkenswert fester Stimme hinzu: »Aber ich will mich seiner würdig zeigen.« Dann wendete er sich wieder an Steinauge und fragte, womit er ihm dienen könne. Da berichtete Steinauge, was hier geschehen war, und sagte schließlich: »Der Stein kann wohl nur wiedergefunden werden, wenn du alle Mäuse dieser Gegend zusammenrufst und mit ihnen die Bergkuppe absuchst.«
»Wenn’s weiter nichts ist«, sagte der Mäuserich und stieß ein paar schrille Pfiffe aus. Schon nach wenigen Augenblicken begann es ringsum zu rascheln, kleine dunkle Schatten hasteten über den Waldboden, das Gras auf der Bergwiese schien lebendig zu werden, Halme schwankten
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